von Norbert Pany
Ich bin geneigt zu behaupten, der Krebs lebt von der Hoffnung oder zehrt an ihr. Erhält man einmal die Diagnose, ist es ein ständiger Kampf gegen einen Dammbruch. Man ist damit beschäftigt Wassermassen zurückzuhalten. Jedes Loch, das man wieder geschlossen hat, ist ein kleiner Erfolg. Auch, sollte etwas weniger Wasser als noch am Vortag durchstoßen, wird man dies feiern. Doch die Wassermassen werden nicht verschwinden. Deswegen ist Hoffnung so entscheidend. Allein sieht man sich vor einer riesengroßen Staumauer, die so gewaltig ist, dass man die Enden kaum sehen kann. Eine Person ist fast zu wenig für die Aufgabe, sich um die leckende Mauer zu kümmern. Es erscheint als unlösbare Aufgabe. Umso wichtiger ist es, vom Erfolg überzeugt zu sein.
Mein Vater war davon überzeugt. Er ließ sich nicht unterkriegen oder war gar verzweifelt. Eine neue Lebensaufgabe sah er im Kampf gegen die Krankheit. Er konnte nicht glauben, dass das schon alles war, was er im Leben gesehen und erreicht hat. Viel wichtiger war, er hat nicht die „Warum“-Frage gestellt. Betrachtet man sein Leben, hätte er allen Grund dazu gehabt hinauszuschreien „Warum denn ich? Habe ich nicht schon genug erlebt?“ Doch das tat er nicht. Er sah sich als einer von vielen. Und doch war es sein Kampf, den er führte. Hunderttausende Menschen führen tagtäglich die gleichen Kämpfe gegen dieselbe Krankheit. Aber niemand hätte stellvertretend den Kampf für meinen Vater führen können.
Die Erfolge am Anfang haben uns allen Kraft gegeben. Umso schöner war der Moment, als mein Vater die letzte Therapiesitzung hatte und der Arzt sagte „Sie haben es geschafft!“ Dann gab es wieder die Hoffnung, dass sich die Kämpfe ausgezahlt haben. Die harte Arbeit an der Staumauer, sie sollte wohl ein Ende haben. „Wir sehen es als ein Schuss vor den Bug“, haben wir in der Familie fortan gesagt. Vielleicht sollte mein Vater nur zu der Erkenntnis gelangen, ein anderes Leben einzuschlagen. Die Hoffnung, dass dem wirklich so ist, hat uns Kraft gegeben. So beklemmend die Vögel zwitscherten, als sich mein Vater von mir zunächst verabschiedete, so friedvoll waren sie, als er die Krankheit bekämpfte. Es gab die Momente, da hatte ich Hoffnung auf eine neue Familie. Die Krankheit meines Vaters hat uns alle auf eine andere Art und Weise verbunden. Da spreche ich vor allem von meiner Mutter, meinem Vater und mir. Diese Zeit haben wir für uns allein und doch gemeinsam durchgestanden.
Mir gefiel der Gedanke daran, dass nun alles wieder beim Alten sei. Ja, es hat schwierige Momente gegeben, aber das Leben ist selten gradlinig oder einfach. Ich wollte aber die Hoffnung nicht aufgeben, diese neue-alte Zeit genießen zu können. Die Hoffnung hat mir Kraft gegeben. Endlich wollte ich die gemeinsame Zeit mit meinem Vater genießen, wir wollten das neue Familienleben auskosten. Wenn es möglich war, haben wir das auch getan. Auch Jahre nach seinem Tod kann ich sagen, dass ich die erste Zeit nach der Therapie genossen habe. Es gab die Hoffnung eines endlosen Lebens, wie es jetzt war.
© Norbert Pany 2024-08-02