von Maria Büchler
Heute denke ich, dass es fast schon zur Tierquälerei zählte. Immerhin ist keines der Hühner zu sichtbarem Schaden gekommen, und sie haben nach diesem Vorfall weiterhin ordnungsgemäß ihre Eier gelegt. Denn wir hatten ein schlechtes Gewissen und fragten am nächsten Tag vorsichtig bei der Bäuerin nach.
Also! Ich war zu Besuch bei Bekannten, die neben einem Bauernhof wohnten. Bei herrlichem Sonnenschein nahmen wir den Nachmittagskaffee auf dem Balkon ein. Nebenan scharrte das Federvieh im Gras, fand ab und zu einen Regenwurm, ließ mit erhobenem Kopf kleine Portionen Wasser durch die Kehle rinnen und gackerte zufrieden vor sich hin.
Es war Frühling, die Pollen wehten fröhlich durch die Luft und reizten auch unsere Schleimhäute. Wir Damen niesten dezent. Man weiß ja, was sich gehört, nicht wahr? Die Herren hielten sich nicht so streng an den ungeschriebenen Verhaltenskodex und taten sich eher weniger Zwang an.
Vor allem nicht Sylvestre. Er drehte sich zwar höflich beiseite, donnerte jedoch ungeniert in die Gegend hinaus. Greti lachte: „Habt ihr das gesehen?“ – „Was? Was?“ – „Habt ihr die Hühner gesehen? Syle, do it again! Nies noch einmal! Und ihr: Schaut auf die Hühner!“
Syle lachte, zog einen seiner Pfeifenputzer aus dem Etui und drehte ihn leicht in seinem rechten Nasenloch. Wir alle richteten unser Augenmerk auf die Wiese des Bauern. Ha-tschiii!
Derart erschreckt, stoben die Hühner – nein, nicht in alle Richtungen, sondern geschlossen zum Kuhstall, der unterhalb des Holzbodens kleine Öffnungen gegen die Erde zu hatte. Nun lachten wir alle. Die Hennen waren so schnell wie der Blitz darunter verschwunden, es war sensationell! Nur eine kurze Weile blieben sie in ihrem Versteck, bevor sie miteinander wieder daraus hervorkamen und weiter fraßen.
Sylvestre musste noch zweimal seine Nase kitzeln, und wieder rannten die Tiere in Rekordzeit unter den Stall. Dann fanden wir, dass wir sie nicht weiter erschrecken sollten. Wer weiß schon, was so ein Hühnerherz aushält?
Über Hühner ist viel Positives bekannt. Sie haben ein ausgeprägtes Sozialverhalten und kommunizieren auf komplexe Art, etwa mit ihren Warnlauten. Für Gefahren aus der Luft haben sie andere als für solche auf der Erde. Es wurde bewiesen, dass sie den Feind nicht selbst sehen müssen, um angemessen zu reagieren. Die Warnlaute eines Artgenossen vermitteln ihnen die benötigten Informationen. Diese Signale funktionieren ähnlich wie menschliche Worte.
Hühner sind in der Lage, Probleme zu lösen und erinnern sich an Vergangenes. Sie treffen Entscheidungen, lernen und schlussfolgern. Ihre Küken lösen sogar von Geburt an Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum zwischen Null und Fünf.
Sie können aber auch richtig durchtrieben sein. Hähne geben manchmal den Laut für gefundenes Fressen von sich, obwohl sie gar nichts entdeckt haben. Damit wollen sie die angelockten weiblichen Tiere für sich gewinnen. Es soll also ja keiner mehr sagen: dummes Huhn!
© Maria Büchler 2021-05-26