Etwa zwei Monate nach meiner Ankunft in Washington DC, flog meine Gastfamilie für Thanksgiving in den Süden. Ich war zurückgeblieben, denn etwas Me-Time war ein schöner Gedanke nach den letzten intensiven Arbeitswochen. Ich spielte auf der Playstation und hatte Zeit, Netflix zu durchstöbern – ein ruhiger Tag lag vor mir. Nebenbei kümmerte ich mich um unseren Labrador Daisy. Eine alte und immer hungrige Hundedame, die alles für eine zweite Portion Trockenfutter getan hätte. Als ich mich gerade für meinen nächsten Film auf die Couch legte, stand sie plötzlich an der Terrassentür und bellte mich mit Nachdruck an. Trotz des Spaziergangs musste sie nochmal raus. Ich öffnete ihr die Tür und schloss sie gleich wieder, um die kalte Winterluft nicht hereinzulassen. Dann kroch unter meine Decke und startete den Film. Ein Fehler.
Knapp 40 Minuten später sprang ich erschrocken von der Couch. Ich hatte vergessen, sie wieder ins Haus zu lassen. Erste Angst machte sich breit. In Socken, einer kurzen Hose und einem T-Shirt lief ich durch den Garten und rief nach ihr – immer wieder und immer lauter, aber es war kein Hund zu sehen. Zurück im Haus zog ich meinen Mantel und meine Schuhe an, stolperte durch die Eingangstür und lief auf die Straße. In meiner Verzweiflung hatte ich keine Ahnung, wo ich beginnen sollte. Die Nachbarschaft schien ruhig, weder Autos noch Menschen waren zu sehen. Das würde mir meine Gastmutter nicht verzeihen, ich war erst zwei Monate hier und schon passierte mir sowas Dummes. Dies könnte mit meinem Heimflug enden. Ich lief weiter. Der Sportplatz einer Schule, zu dem wir Daisy oft spazieren führten, war meine letzte Option. Auch hier war weit und breit kein gelber Labrador zu sehen. Es war aussichtslos.
Als ich verzweifelt unsere Straße entlanglief, öffnete sich plötzlich eine Haustür. Mehrere Menschen kamen auf die Veranda und mit ihnen – unser Hund. Sie mussten mitten im Thanksgiving Dinner sein. Daisy hatte scheinbar den Truthahn entdeckt und am Fenster gebettelt. Wie peinlich. Ich lief auf sie zu und erklärte ihnen die Situation und wer ich war. Doch dann fiel mein Herz erst richtig in die Hose. Die Nachbarin sagte, sie hätte die Besitzer mit der Nummer am Halsband verständigt. Nein! Ich konnte nicht glauben, dass meine Gastfamilie gerade beim wichtigsten Dinner des Jahres tausend Kilometer weit weg zusammensaß und plötzlich eine fremde Frau anrief, um zu sagen sie hätten ihren Hund gefunden. Ich hatte mein Handy zu Hause vergessen und ahnte böses.
Kurz bevor wir unser Haus erreichten, bog ein dunkles Auto in die Einfahrt. Der Fahrer ging direkt auf mich zu, stellte sich vor und zeigte fragend auf Daisy. Er war ihr früherer Besitzer, bevor sie zu meiner Gastfamilie kam. Ich kippte fast aus den Schuhen. Schwein gehabt – sie hatten das Halsband mit seiner Telefonnummer nie gewechselt.
Ich behielt die Geschichte erstmal für mich. Erst Jahre später erzählte ich es meiner Gastmutter bei einer Flasche Wein – wir lachten Tränen.
© Michael Schoberleitner 2020-04-21