von Sandra Nguyen
In meiner Grundschule stand direkt neben dem Eingang eine große Bühne auf dem Schulhof. Die Bühne diente den Schülern als Spielplatz an allen Tagen des Schuljahres außer dem ersten und letzten. Dann fanden Veranstaltungen statt, die sich nun aufgezeichnet und verstaubt auf den dicken grauen Videokassetten befinden, die die meisten Familien auf dem Dachboden aufbewahren. An den meisten Tagen war die Bühne leer, doch manchmal prangte ein großes weißes Schild an einem der Pfosten. „Bei uns sind die Masern aufgetreten“, las ich eines Tages verwundert und verbrachte den Schultag damit, mir vorzustellen, wie das wohl war. Ich überlegte, wie viele es waren, wer sie alles gesehen hatte und ob sie nochmal wiederkommen würden.
Zu Hause fragte ich meine Oma danach, die mich ganz verwundert ansah und mir erklärte, dass die Masern keine Musikgruppe sind, sondern eine Krankheit. Im Alter von 7 Jahren hatte ich kaum Erfahrung mit Krankheiten, abgesehen von Schnupfen, Husten und Magen-Darm-Viren. Nachdem meine Oma mich also über die Symptome und das Aussehen dieser Krankheit aufgeklärt hatte, war ich schockiert. Ich betrachte diese Zeit als Ursprung meiner Hypochondrie. Meine Angst vor Krankheiten fand jedoch einen neuen Höhepunkt mit der Entdeckung des Internets. Hatte ich einen trockenen Hals oder einen stechenden Kopfschmerz fand ich mich in den Tiefen einiger Foren wieder, die über Tumore und seltene Krebsarten philosophierten und meine Panik entfachten.
Als ich nach einigen Jahren und Arztbesuchen entschied, dass ich keine seltene Erbkrankheit, sondern nur einen nervösen Magen hatte, fasste ich den Entschluss, mich nicht mehr selbst im Internet zu diagnostizieren. Das Problem, das ich nun habe, ist jedoch, dass das Wissen, dass ich mir über die Jahre angeeignet habe, nicht einfach verschwindet. Ich weiß, welche Symptome für eine Blinddarmentzündung sprechen und teste bei jedem Schmerz im Bauch, ob es ein stechender oder drückender Schmerz ist, oder ob es mehr weh tut, wenn ich auf einem Bein hüpfe. Ich denke bei jedem Migräneanfall, dass nun meine Zeit gekommen ist und als ich an COVID-19 erkrankte, umgeben von einer globalen Pandemie, halfen nur viele Gespräche mit meinem medizinisch fachkundigen Mann dabei, mich so weit zu beruhigen, dass ich nicht auf den Tod wartete.
Krank sein ist für mich noch immer schwierig und ich weiß nicht, ob es jemals leicht wird für mich, bei einer Erkältung entspannt auf dem Sofa zu sitzen, Tee zu trinken und Halsbonbons zu lutschen. Stattdessen las ich bisher panisch Beipackzettel und überlegte, ob ich von einer der Krankheiten betroffen war, die gegen eine Einnahme eines Medikaments sprechen würden. Ich wünschte, dass ich immer noch denken könnte, dass die Masern eine Band sind. Es hätte mir sehr viel Stress erspart.
© Sandra Nguyen 2023-08-23