von Eliah Kleines
Pfarrer Kerner schlug sich blutig. Es war kurz nach Mitternacht, er stand splitterfasernackt in seinem Badezimmer, und er geißelte sich. Die kleine Peitsche in seiner Hand ließ er immer und immer wieder auf seinen Rücken sausen, und immer wieder musste er sich auf die Zunge beißen, um die verzweifelten Schmerzensschreie zu unterdrücken, die sich ihm die Kehle hinaufzuarbeiten versuchten. Tue Buße, flüsterte die Stimme ihm immer wieder ins Ohr, tue Buße, Kerner! Und Kerner tat Buße.
Zack!, wurde sein Rücken wieder getroffen, und ein erschöpftes Keuchen entglitt seinem trockenen Mund. Es roch nach frischem Blut. „Ich habe gesündigt, jetzt tue ich Buße!“, sagte Kerner stoisch sein neues Mantra auf, stellte sich wieder etwas gerader hin, und holte zum nächsten Schlag aus. Zack. Deus vult. Gott will es, erklang wieder die Stimme. Ob Gott tatsächlich wollte, dass der 35-jährige Pfarrer sich mitten in der Nacht auspeitschte, lässt sich nicht belegen. Zweifelsfrei aber hatte Kerner gesündigt, und da er allein schon des Berufs wegen äußerst religiös war, erschien ihm die Buße der einzige richtige Weg zu sein. Sein unerschütterlicher Glaube war es auch, der ihn weiterhin aufrecht stehen ließ; jeder andere wäre längst in die Knie gegangen. Erst knappe drei Stunden später brach Pfarrer Kerner schließlich bewusstlos zusammen.
Das Kind ist tot.
Am nächsten Morgen wachte er auf den kalten Badezimmerfliesen auf, das Dunkelrot von getrocknetem Blut überall. Aus der Ferne hätte man Kerner in diesem Augenblick kaum noch als Menschen identifizieren können, und er fühlte sich auch nicht wie einer. Selbstverständlich ging es ihm nicht gut – sein Rücken war derart geschunden, dass es an ein Wunder grenzen musste, nicht die Wirbelsäule offen herausragen zu sehen. Immerhin erinnerte ihn der Schmerz daran, dass er noch lebte. Und leben hieß in seinem Fall fürs erste, oder vielleicht für immer: Buße tun. Ganz genau, Kerner. Die Stimme wieder. Kerner jedenfalls schleppte sich in die Dusche, um das Rot von seinem Körper zu waschen. Grauenhafter Fehler: Das Wasser brannte ihm derart auf dem Fleisch, dass er sich prompt verfrüht ins Fegefeuer versetzt fühlte, in dem er jetzt sowieso einen Platz reserviert hatte. „Das ist meine persönliche Hölle.“, stellte Kerner matt fest, bevor er sich bäuchlings auf das Bett fallen ließ und dort eine Weile erschöpft liegen blieb, beinahe wie tot. Wünschst du dir, tot zu sein? -Ich weiß nicht. -Na, ich sag‘ es dir: NEIN. Wenn du tot wärst, könntest du keine Buße tun. So lag Kerner da und tat zumindest so, als sei er tot.
Das Kind bleibt tot.
Wodurch ist ein religiöser Eiferer zu erkennen? Muss er die Heilige Schrift seiner Religion penibel befolgen, oder darf er sündigen, solange er anschließend um Vergebung bittet? Muss er einen höheren Rang oder Bewusstseinszustand erlangen wollen, oder soll er mit seiner gottgegebenen Position zufrieden sein? Soll er glauben, oder soll er wissen? Und geht ein religiöser Eiferer selbstlos in seiner Religion auf, oder stellt er seine Rolle über das Wohl anderer? Vielleicht ist er ein Mensch, der etwas sicher weiß oder zu wissen glaubt, auch wenn es ihm oder Anderen schadet.
Du hast das Kind umgebracht.
© Eliah Kleines 2024-02-18