Ich bin gewachsen

Lea Rabanser

von Lea Rabanser

Story

Manchmal muss ich an damals denken.
Damals, als ich mit meiner Mama und meinem Tata in meinem Zuhause wohnte. Und mit meinen Geschwistern.
Und es war schön.
Und es war normal. Damals war es normal.
Und dann zog mein Tata aus. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich manchmal mittags bei ihm ihn seiner neuen Wohnung gegessen habe, und er hat sich immer sehr viel Mühe beim Anrichten der Teller gegeben. Die Lebensmittel bildeten immer ein Gesicht. Die Karotten die Haare. Die Tomate den Mund. Er hat es immer geschafft, mich zum Staunen zu bringen.
Und dann stellte er mir seine neue Frau vor.
Und er hörte auf mit den Gesichtern auf den Tellern.
Und immer wieder stritten sie, Mama und Tata.
Dann zog auch Mama um, nicht weit weg, aber weiter weg, und ich musste Schule wechseln.
Jedes zweite Wochenende packte ich alles, was mir wichtig war in einen Rucksack, und verbrachte dann zwei Tage bei meinem Vater. Auch dienstags ging ich zu ihm.
Ich wuchs und ich wurde älter und die Tage mit ihm wurden zu wöchentlichen Besuchen.
Die wöchentlichen Besuche zu monatlichen.
Die monatlichen Besuche wurden zu Anrufen.
Und die Anrufe dann zu Textnachrichten.
Ich weiß nicht warum, vielleicht weil ich das Gefühl hatte, Geld sei ihm wichtiger als seine Kinder. Oder vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, ich war ihm egal. Vielleicht habe ich mich bei ihm nicht mehr Zuhause gefühlt. Ich hörte nie auf ihn zu lieben, aber ich dachte, er hat aufgehört mich zu lieben.
Jetzt habe ich das Gefühl, ihn kaum noch zu kennen.
Ich kann ihn nicht einschätzen, und deshalb fühle ich mich unwohl.
Wenn wir sprechen,
falls wir sprechen,
fragt er, wie es in der Schule läuft, und ich sage: „Gut, und bei deiner Arbeit?“. Und dann stehen wir beide dort, nebeneinander, aber nicht zu dicht nebeneinander, und suchen verzweifelt nach Fragen, mit denen wir die unangenehme Stille unterbrechen können. Er ist mir fremd, und ich bin ihm fremd. Und er kann wenig dafür, und ich kann wenig dafür, glaube ich. Aber irgendwie ist es passiert, und jetzt vermisse ich ihn. Und ich vermisse die Beziehung, die wir hatten. Eine Beziehung, die wir nie wieder haben werden, weil ich mich verändert habe und weil Tata sich verändert hat und weil ich nicht mehr das unschuldige, kleine, nette Mädchen von damals bin, und weil er zu viel weiß, um noch das unschuldige, kleine, nette Mädchen von damals in mir zu sehen.


© Lea Rabanser 2023-08-23

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