von Valery
Am liebsten würde ich vergessen, was vor vielen Jahren passiert ist. Ich möchte vergessen, dass ich in eine Falle getappt bin. Ich möchte am liebsten vergessen, dass ich so lange nicht gesehen habe, was er da eigentlich mit mir macht:
Ich konnte den Geschirrspüler nicht richtig einräumen, die Frischhaltedosen nicht richtig in den Schrank einräumen, das Bett nicht richtig neu beziehen – meine Methode war ja wahnsinnig umständlich. Wenn ich sagte, dass ich das eben so machte, verhielt ich mich seiner Meinung nach wie ein Kleinkind und sollte sofort damit aufhören. Vergaß ich seinen Kaffee oder Toast am Morgen herzurichten, war ich egoistisch. Genauso, wenn ich es abends mal wagte, ohne ihn zu essen. Meine Pläne für Unternehmungen am Wochenende waren nie gut genug. Er konnte immer noch etwas optimieren und dann folgten wir natürlich seinem Plan, aber er meinte es ja nur gut. Er meinte es auch nur gut, wenn er mit mir, so wie ich angezogen war, nicht aus dem Haus gehen wollte, weil mir der Rock oder die Hose nicht standen, oder er die Schuhe schrecklich fand. Er wollte doch allen nur zeigen, wie hübsch seine Freundin war. Meine Freunde waren komisch, also trafen wir sie nicht mehr. Wenn ich meine Freunde ohne ihn traf, wollte er immer genau wissen, wo wir gewesen waren und mit wem ich worüber geredet hatte. Wollte ich das nicht im Detail erzählen, war er beleidigt. Weil ich mich ihm angeblich nicht öffnen konnte, war ich komisch, egoistisch, emotional verkrüppelt und nicht beziehungsfähig. Mit morgendlichem Yoga erkämpfte ich mir einen Freiraum, bevor der Tag losging. Doch da ich deswegen früher aufstand, war ich nun schuld, dass er nicht gut weiterschlafen konnte. Außerdem konnte ich sowieso kein richtiger Yogi sein – ich schaffte es ja nicht einmal bei dieser Dehnungsübung, dass sich meine Hände in der Mitte des Rückens trafen.
Ich erzählte meiner Therapeutin, wie ich irgendwann resignierte. Und wenn doch mal der Trotz aufflammte, wurde ich mit Liebesentzug bestraft. Vor allem, als ich zweimal versuchte, ihn zu verlassen. Meine Argumente ließ er nicht gelten, sie waren nicht rational, sondern „Kleinkindlogik“. Außerdem wollte er gleich seine Mutter und seinen Onkel anrufen, damit sie beim Ausräumen meiner Sache halfen. Die Vorstellung, mit seiner Familie, die sich überall einmischte, diskutieren zu müssen, versetzte mich derart in Panik, dass ich blieb. Ich erzählte, wie ich mich schließlich doch befreite und wie schlecht ich mich fühlte, weil ich sein Herz gebrochen hatte. Ich hatte das Gefühl, der schrecklichste Mensch auf der Welt zu sein, aß wenig und bestrafte mich mit Muskelschmerzen durch Sport.
„Sie sind eine Überlebende von emotionaler Gewalt. Zweifeln Sie nicht gleich komplett an sich, wenn Sie Fehler machen. Wir alle machen Fehler.“ Sagte meine Therapeutin. Ich, eine Überlebende? So schlimm war das doch damals gar nicht gewesen, oder? Es brauchte noch einige Sitzungen, bis ich begriff: Ich bin eine Überlebende und ich bin glimpflich davongekommen. Ich bin meiner Therapeutin dankbar, wie behutsam sie mir geholfen hat, mich mit dem Thema emotionale Gewalt und deren Auswirkungen zu beschäftigen.
© Valery 2024-02-17