Ich bin keine Hexe

Ich darf nicht zaubern, verdammt. Das weiße Bändchen an meinem Handgelenk sagt es klar und deutlich: Ich bin keine Hexe. Direkt vor mir sitzt ein Dämon. Neben mir bibbern die Kollegen. Und ich hab wirklich keine Lust heute zu sterben. Der Dämon grinst. Er hat spitze, perlweiße Reißzähne und runde, glutrote Augen. „Ich mag Büroangestellte. So leichte Beute. Wer von euch hat vergessen die Sicherung wieder zu legen? Komm, sag es mir, dann hole ich dich als Erstes.“ Mir wird schlecht. Ich muss etwas tun, aber ich darf auf keinen Fall auffliegen. Das, was mir passieren würde, wäre schlimmer als jeder Dämonenangriff.

„Du hast dir die falschen ausgesucht!“ Andre, der Idiot, tritt einen Schritt vor und schüttelt sein rotes Bändchen. Das hat mir noch gefehlt, dass dieser Trottel einen halbgaren Angriff versucht und uns alle dabei verletzt. Der Dämon ist amüsiert: „Na dann zeig uns mal, was du kannst, kleiner Hexer.“ Andre wirft einen Seilzauber um den Dämon, doch das Lasso zischt durch ihn hindurch und verpufft. Der Dämon grinst immer noch und rückt einen Schritt näher. Sie mögen es, mit uns zu spielen. Ich kann keinen Seilbannzauber, ich kann keine dieser klassischen Hexereien. Aber ich hätte gewusst, dass ein Seilbannzauber gegen einen Dämon sinnlos ist. Ich muss etwas tun.

Auf einmal blicken mich die glutroten Augen direkt an und verweilen auf mir. Verdammt, bitte lass ihn mich nicht wiedererkennen. Ich dachte, ich könnte es gut unter meiner Menschlichkeit tarnen. Ich weiß nicht, welche Ähnlichkeit er an mir sieht. „Irgendwas hast du, meine Kleine.“ Ich verstecke mich hinter meinen blonden Haaren und vergrabe meine Hände in den Taschen meines blauen Hippie-Kleides. Andre wittert seine Chance. Und ich auf einmal meine. Sein Bannzauber hat kaum Kraft. Das gelingt nicht mal Hexern mit blauem Armband. Aber meine gemurmelten Worte gehen in seinem Gebrüll unter und – der Dämon ist verschwunden. Meine Kollegen schauen belämmert aus der Wäsche, Nina weint und schluchzt hysterisch in ihren Kapuzenpulli.

Ich werde großen Ärger bekommen mit demjenigen, in dessen Bezirk der Dämon in der Anderswelt gelandet ist. Aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Alle hängen sich in den Armen, reden durcheinander. Nina schaut mich an, bekommt sich langsam wieder ein. „Du Arme, du musst dich völlig hilflos gefühlt haben, du hättest ja nicht mal einen Schutzkreis um dich hexen können, wenn es eng würde.“ Mitleidig blickt sie mich an. Ein Schutzkreis hätte keine zwei Minuten standgehalten. „Ja, ich hatte Angst“, sage ich und drehe mich weg. Ist nicht mal gelogen. Hat wirklich niemand es gemerkt? Sie klopfen Andre auf die Schulter, loben ihn. Er schaut verwirrt, bedankt sich, winkt ab. Er tritt beiseite, als müsse er sich sammeln, rempelt mich versehentlich an. „Oh, Ellie“, sagt er. „Klasse Zauber, sie sollten dir echt das blaue Bändchen geben, wirklich“, rufe ich und bemühe einen bewundernden Gesichtsausdruck. „Ich weiß nicht, es hat sich nicht richtig angefühlt“, murmelt er. Das gibt er nur zu, weil ich keine Hexe bin. „Es hat unglaublich gut funktioniert, du hast einen Dämon gebannt.“ Verdammt. Da bleiben Zweifel in seinem Blick. Bitte lass ihn jetzt nicht zur richtigen Schlussfolgerung kommen.