von Emilia Kropp
Ich bin ein Schatten. Das flüchtige Spiel aus Dunkelheit und Licht. Ich werde immer gesehen, aber große Aufmerksamkeit schenkt man mir nicht.
Im Verlauf des Tages verändert sich meine Größe und Form stetig. Nicht nur Jahre, auch Minuten oder gar Sekunden, ändern meine Erscheinung, alles abhängig von der Sonne und der Bewegung der Welt. Manchmal, wenn die Sonne tief steht, bin ich riesig, langgezogen, beinahe majestätisch. Dann wieder schrumpfe ich zusammen, bin kaum mehr als eine dunkle Pfütze unter den Füßen derer, die mich begleiten. Je mehr Licht, desto weniger Dunkelheit. Aber ganz weg bin ich nie. Die Menschen glauben, mich zu kontrollieren, doch in Wahrheit bin ich derjenige, der sie nie verlässt.
Obwohl ich still bin, erzähle ich Geschichten. Obwohl ich keine Subtanz besitze, benutzen mich manche, um sich oder das, was sie bei sich tragen, unterzustellen. Um sich zu schützen. Um für eine kurze Zeit durchatmen zu können.
Ein Schatten zu sein hat gute Seiten.
Niemand schenkt mir dabei Verdacht, doch ich sehe mehr, als sie denken. Doch ich bin mehr als nur ein stummer Beobachter. Ich bin ein Chronist, ein Bewahrer der Geschichten, die im Fluss der Zeit oft verloren gehen. Wenn ein Kind barfuß über eine Wiese läuft, bin ich da, um den Moment einzufangen.
Wenn zwei Hände sich heimlich in einer Gasse treffen, bin ich die stille Zeugin.
Selbst in den dunkelsten Stunden, wenn das Licht fast erlischt, bleibe ich treu – schwächer vielleicht, aber nie ganz verschwunden.
Ich sehe, wie sich Leute eins auswischen.
Ich bin dabei, wenn ein Liebesbeweis gegeben wird. Man findet mich immer und überall, wo ein Lichtstrahl auf ein Hindernis trifft. In der U-Bahn, in einer kleinen Straße oder auch auf großen Festen.
Wie wäre es wohl, wenn sie durch meine „Augen“ sehen könnten?
Ohne mich wäre die Welt etwas weniger geheimnisvoll. Solange das Licht existiert, werde auch ich existieren.
Und mit mir die unzähligen Geschichten, die in meiner Dunkelheit verborgen liegen.
© Emilia Kropp 2025-06-08