Ich erbe einmal alles!

Gerhard Maier

von Gerhard Maier

Story

Diese fabelhafte Geschichte habe ich ins vorrevolutionäre China verlegt. Jede Ähnlichkeit mit Vorkommnissen im heutigen Europa wäre rein zufällig.

Der Familienvater ist verstorben, die Mutter ist zur Witwe geworden, die drei erwachsenen Söhne sind nun Halbweisen. Bei der Trauerfeier schwören die Söhne ihrer Mutter, ewig für sie zu sorgen.

Kaum ist der Vater unter der Erde, sucht der jüngste Sohn die Mutter auf und eröffnet ihr Folgendes. Der Vater habe ihm das große Stadthaus der Familie versprochen. Sie, die Mutter, könne im Haus wohnen bleiben, er würde sich bestens um sie kümmern. Die Mutter war froh und stimmte zu.

Der jüngste Sohn zog mit Sack und Pack in das Stadthaus ein. Die Mutter führte ihm den Haushalt, der jüngste Sohn war verzogen und recht anspruchsvoll. Immer wieder brachte er Frauen von seinen nächtlichen Streifzügen mit nach Hause, was der Mutter nicht sonderlich gefiel. Sie stellte ihn zur Rede, es sei ihr alles viel zu viel. Sie spüre ihre Kräfte schwinden, so könne es nicht weitergehen.

Der Sohn meinte, dass er seine Muter gut verstehen könne. Um alle Aufgaben schaffen zu können, sei das Haus zu groß für sie. So groß sei das Haus allerdings auch wieder nicht, er könne die Zimmer der Mutter gut gebrauchen. Er werde ihr ein kleines, bewältigbares Häuschen besorgen, wenn sie ihm das Stadthaus überschreibe. Die Mutter war froh und stimmte zu.

Der jüngste Bruder rief die beiden älteren Brüder zu sich und klagte, dass die Mutter alt werde und überfordert sei. Sie hätten doch gemeinsam versprochen, ewig für die Mutter zu sorgen, nun bliebe alles an ihm hängen. Die beiden Brüder kauften für die Mutter im Grünen ein kleines Haus, daneben einen Garten, wo die Mutter gut wohnen und sich mit Gemüse versorgen könne. Der jüngste Sohn schenkte ihr einen Papagei, damit die Mutter jemanden zur Unterhaltung habe, er selbst könne nicht jeden Monat zu ihr kommen.

Eines Tages suchten die drei Brüder ihre Mutter auf, sie war vereinsamt und machte ihren älteren Söhnen Vorwürfe. Sie hätten sie in dieses Haus im Grünen abgeschoben, dieses sei viel zu groß und mache zu viel Arbeit, genauso wie der Garten. Einzig und allein der jüngste Sohn verstehe ihre Bedürfnisse, der habe ihr ein Hühnchen geschenkt, das sie kürzlich verkocht habe. Das war so zart.

Bald darauf starb die Mutter. Sie war noch nicht unter der Erde, da eröffnete der jüngste Sohn seinen Brüdern, dass er das Haus im Grünen übernehmen werde. Der Vater habe ihm versprochen, dass er einmal alles erben werde, da er sein Lieblingssohn gewesen sei.

Die beiden Brüder stellten fest, dass der Vater schon seit zehn Jahren unter der Erde sei und soeben die Mutter gestorben sei. Im Übrigen gehöre das Haus dem einen und der Garten dem anderen, was auch so bleiben würde.

„Ihr seid mir schöne Brüder!“, war der jüngste Sohn enttäuscht und brach den Kontakt zu den beiden anderen ab.

© Gerhard Maier 2021-08-22