Ich hab‘ meine Tante geschlachtet

Maria Büchler

von Maria Büchler

Story

Wer Lyrik liebt, hat seine drei, vier Lieblingsgedichte, die er immer wieder gerne liest und meist auswendig hersagen kann. So auch ich. Nein, bei mir befindet sich darunter kein Rilke, auch wenn ich seine Werke sehr schätze. Ganz sicher gehören weder Hesse noch Goethe oder Hölderlin dazu. Aber natürlich Ernst Jandl, Marie Luise Kaschnitz, Paul Celan, Kurt Schwitters.

Gleich vorweg: Ich lese die Verse weniger, sondern höre sie lieber auf CD, gesprochen von geschulten Schauspielern. Bei den Damen rangiert die rauchig-hinterhältige Stimme von Katharina Thalbach an allererster Stelle. Bei den Herren ist es der markante Bass von Otto Sander. Und natürlich die gepflegte Sprache von Oskar Werner und der Klang aus Heinz Erhardts Kehle, eh klar. Entzückend finde ich die siebenjährige Nelly Thalbach, wenn sie die „Kinderhymne“ rezitiert.

Nun also meine Lieblinge, und ich beschränke mich dabei auf die deutschen Dichter. Unter ihnen befindet sich Bertold Brecht, dessen „Erinnerung an die Marie A.“ ich am liebsten mag, wenn Johanna Schall sie singt. Dabei lässt sie ab der Strophe „Und auch den Kuss, ich hätt‘ ihn längst vergessen“ so viel Sinnlichkeit und Witz einfließen, dass ich jedes Mal meine helle Freude daran habe.

Natürlich gehört auch Joachim Ringelnatz dazu. Seine Kuttel Daddeldu- und Turngedichte kennt ohnehin jeder. Wo hab‘ ich nur die CD, auf der Kate Kühl so markig „Deutsche Frau, dich ruft der Barr’n“ schmettert?

Mich fasziniert aber noch ein anderes von ihm: „Die Riesendame auf der Oktoberwiese“, wobei die Schlussverse besonders eingängig sind. Ich weiß, hier gleitet mein Geschmack stark ins Rustikale ab. Aber ich will mich nicht nur an feierlicher Poesie erbauen, sondern zwischendurch auch lachen dürfen. Oh, es gibt noch wundervolle Dinge in den Reihen der deutschen und der anderssprachigen Poesie!

Doch seit ich durch Zufall auf Frank Wedekind gestoßen bin, sind alle anderen Dichter einen, wenn auch kleinen, Schritt zurückgetreten. Ich habe diesmal das Gedicht vom Tantenmörder nicht auf einer Platte oder CD gehört, sondern im Internet gelesen. Erst still, dann halblaut, denn die aus dem Rhythmus fallenden Stellen am Ende der ersten, vierten und fünften Strophe irritierten mich zu Beginn. Und weil ich oft und gern auf der Leitung stehe (glaubt mir, das kann auch seine Vorteile haben!), ging mir die allerletzte Strophe in ihrer Ungerechtigkeit und Tragik erst am nächsten Tag so richtig auf.

Hier legt ein junger Mann vor Gericht ein Geständnis ab. Er schildert sehr eindrücklich, wie er beim Raubmord vorgegangen ist. Mit entwaffnender Selbstverständlichkeit, beinahe mit einem Achselzucken bekennt er am Schluss:

„Ich hab‘ meine Tante geschlachtet. Meine Tante war alt und schwach.“ Und in einer anklagenden Steigerung endet er vorwurfsvoll: „Ihr aber, ihr Richter, ihr trachtet meiner blühenden Jugend – Jugend! – nach.“

Und genau das ist mein Lieblingsgedicht. Danke fürs Lesen!

Foto: David Ballew / unsplash

© Maria Büchler 2022-06-19