Ich hab mir die Haare lila gefärbt.
Die Farbe stand schon lange im hintersten Winkel meines Badezimmerkastens. Nie hab ich mich getraut. Sie reichte dann auch nicht aus, um alle meine Haare zu färben, weshalb sie auf dem Hinterkopf immer noch rot sind. Aber hey – das sieht ja jetzt niemand (Reminder: bei Skype-Meetings nie ganz den Kopf von der Kamera wegdrehen!). Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ich habe ein Holzkasterl weiß angemalt.
Das wollte ich schon immer. Ich hab sogar Tutorials dazu angesehen und das Holz vorher abgeschliffen. Ich bin unfassbar ungeduldig und konnte kaum abwarten, bis die erste Schicht trocken war. Es sieht nicht übel aus. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ich habe einen lustigen Song geschrieben.
Gemeinsam mit meinem Mann, der ihn eingespielt hat. Wir haben ihn auf youtube gestellt, mit den passenden Hashtags versehen und auf allen Kanälen geteilt. So haben wir unsere Zeit gemeinsam kreativ genutzt. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ich habe einen Schokokuchen gebacken, der weder Weizen noch Zucker enthält, sondern fancy Ersatzstoffe, die auf -trit und -lyt enden. Ich habe Sport-Tutorials angesehen (und eines über Ballett!!) und sogar mitgemacht (ehrlich). Ich hab Die Pest von Camus gelesen und bin mit Stolz und Vorurteil fast durch. Ich habe mich mit Freunden per Skype betrunken (heftig) und weiß jetzt durchs Universum schauen, dass Schildkröten einen blütenähnlichen Penis haben (eklig!). Ich hab meine „Irgendwann-pass-ich-wieder-rein“-Blusen ausgemistet, neue bestellt und wieder einmal festgestellt, dass es die Größe, die ich brauche, gar nicht gibt (Marge? Laddle?)
Ich hab auch gearbeitet. An manchen Tagen sogar enorm viel. Und doch ist da dieses Mehr an Zeit. Zeit, die eben frei wird, wenn man nicht mehr raus- und fortgehen kann und mit angezogener Handbremse an Kampagnen arbeitet. Zeit, über die man auf Facebook am besten nicht schreibt, weil einem gleich ein Strom der Empörung entgegenschwappt (Duuuuu hast Probleme!). Weil diese Zeit ja kein Grund zur Beschwerde ist, sondern ein Privileg.
Nur, dass ich es eben so gar nicht mehr gewohnt bin, Zeit für MEINE Gedanken zu haben. Dass ich merke, wie sehr man seinem Innersten ausgeliefert ist, wenn man nicht mehr nach draußen kann.
Und dann wird mir bewusst, dass es Dringenderes und Drängenderes gibt als die Frage nach dem besten Ersatzmittel für Weizenmehl.
Und dann wird mir bewusst, dass das Sortieren und Dekorieren und Trainieren wahrscheinlich dazu dienen, mich von Wichtigerem abzulenken.
Ich weiß, dass ich viele Dinge tief in mein Innerstes gesperrt habe. In einen Kasten, den ich lieber nicht öffnen (und nicht einmal neu streichen) möchte. In dem Erinnerungen warten, die gesehen werden wollen, und Entscheidungen, die ich treffen müsste.
NOCH kann ich ihn wunderbar ausblenden, in meiner wunderschönen, violetten, frisch gestrichenen Corona-Blase.
Eines kann ich euch sagen: es duftet hier herrlich nach Bananen-Brot.
© Sonja Ariane Herzog 2020-04-16