Ich habe keine Zeit/-lust

dieschreiberei

von dieschreiberei

Story

Nur noch eine Stunde. Heute fällt mir das Arbeiten enorm schwer. Ständig bin ich mit meinem Kopf in der Zukunft. „Ich hätte, ich muss, ich würde, ich sollte…“, so beginnen die Gedankenspiralen sich ineinander zu verweben. Dazwischen zwänge ich immer wieder den Pausenschalter. Der scheint jedoch nicht ansatzweise zu funktionieren. Ständig kippt er und die Pause ist vorbei. So wurschteln wir uns durch den Tag. Pause ein. Pause aus. Zum Ende hin, gebe ich auf, weil meine Energie heute noch für sehr viel reichen muss. Auch wenn ich das eigentlich nicht will. Mein Herz würde heute liebend gerne auf der Couch ruhen. Und da wären wir wieder beim „Ich würde…“. In Würde. Leider nicht.

„Ich freue mich schon auf später“, schubst mich eine Kollegin in die Jetzt-Zeit zurück. Ich murmle etwas Unverständliches vor mir her. Sie deutet es als Zustimmung, grinst mich an und kehrt an ihren Tisch zurück. Mit innerlicher Verzweiflung lasse ich den Kopf in die aufgestützten Arme sinken. Vor meinem inneren Auge formt sich ein Szenario. Doch ich blase es in den Wind, bevor es sich aufblasen kann.

Im Gastgarten ist es wirklich laut. Von jeder Seite dringt Stimmgewirr an mein Ohr. In mein Ohr. Und das meiste auf der einen Seite hinein und auf der anderen wieder hinaus. „Du wirkst nicht sonderlich entspannt“, versucht mich ein Kollege aus der Reserve zu locken. „Wirkt nur so“, winke ich ab. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass der Abend heute noch andauern wird. In diesem Moment klingelt mein Handy.

„Komm, spiel jetzt einfach mit. Ich weiß genau, dass du dort in diesem Gastgarten nicht sein willst. Nicht an diesem Abend“, höre ich meinen Freund am anderen Ende der Leitung. Bevor ich Einwände äußern kann, fährt er fort: „Versuch es nicht abzustreiten. Dein Gesichtsausdruck heute in der Früh hat einen Roman geschrieben. Du wärst jetzt viel lieber hier bei mir auf der Couch. Zu Hause in deinen eigenen vier Wänden. Für dich selbst und deine Bedürfnisse einzustehen, fällt dir echt schwer. Und weil ich eben so sehr auf dich stehe. Steh ich für die deinen ein“.

„Ja ich komme nach Hause. Nein, es ist wirklich kein Problem“, lege ich auf. Mit großer Mühe unterdrücke ich ein Lächeln. Er hat es geschafft. Wieder einmal. Ich verabschiede mich von meinen Kollegen. Und fast hätte ich ihnen gesagt, dass ich heute einfach absolut keine Lust habe. Aber nur fast. Ich bringe es einfach nicht übers Herz. Obwohl ich weiß, dass sie mir nicht böse wären.

Eingekuschelt in seine Arme drehe ich mich zu ihm. „Danke“, flüstere ich. „Gerne. Und über deine Zeit/- lust müssen wir noch sprechen, liebe Dame“, murmelt er müde. „Manchmal ist es eben die Zeit, manchmal die Lust, manchmal beides zusammen. Die Zeit/- lust eben“, lächle ich in mich hinein. Und beim nächsten Mal bekommt sie eine Stimme. Und zwar die meine.

© dieschreiberei 2022-07-18

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