Ich habe Sekret

Christian Kleber

von Christian Kleber

Story

Da sitze ich also bei dieser Lesung. Auf einem Platz, auf den ich mich nie gesetzt hĂ€tte, wenn nicht der lustige Hanno schon eine gute Stunde vor Beginn dort gewesen und just diese lĂ€cherliche LokalitĂ€t in dieser gar nicht lĂ€cherlichen LokalitĂ€t – Altwiener Kaffeehaus – ausgesucht hĂ€tte. Ich habe Platzangst. Ich will keine Menschen. Also nicht so viele auf einmal. Und schon gar nicht so knapp neben, hinter, vor mir. Dem lustigen Hanno ist das vollkommen egal. Offenbar. Er nippt an seiner Melange, in die er vorher fĂŒnf Löffel Zucker hineingeleert hat und belustigt sich an der illustren und immer grĂ¶ĂŸer werdenden Menge an ZuhörerInnen, die sich alle viel zu nahe um mich herum setzen. Ich versinke immer weiter in diesem komplett kaputten Ledersofa und ziehe mir meine Maske noch weiter ĂŒber das Gesicht. Zuerst wollte ich unheimlich lustig sein und just zum Zeitpunkt des Falls der Maskenpflicht immer eine Maske tragen. Aus Protest. Wogegen auch immer. Dann wurde ich drei Tage vor dieser Lesung krank, grippaler Infekt. Gibt es auch. Deshalb eben alles mit Makse, damit ich niemanden anstecke. WĂ€re vor drei oder hundert Jahren, keine Sau weiß mehr, wann diese Pandemie eigentlich angefangen hat, undenkbar gewesen, aber da jetzt und hier und dort und morgen und gestern und ĂŒberhaupt falle ich nicht auf damit. Gar nicht. Andere haben auch Masken im Gesicht. Die meisten nicht.

Die Lesung beginnt nur fĂŒnfundzwanzig Minuten nach dem vorhergesagten Start und ich bin ĂŒberrascht, wie frivol-erotisch die Autorin liest. Nicht die Art, WIE sie liest – oder doch? – sondern das, WAS sie liest, Autoerotik im Kampf gegen die Einsamkeit, genau geschildert, ich belustige mich an dem jungen Jungen, der – vielleicht dreizehnjĂ€hrig – interessiert filmt. SpĂ€ter erfahre ich, dass es sich nicht um den Sohn, sondern um den Neffen der Autorin handelt und dass der aufgrund eines angeborenen Hörfehlers nur selektiv wahrnimmt, das “Böse” nicht in sein Innerstes vordringt. Leider dringt aus MEINEM Innersten immer mehr Sekret nach draußen, wobei “draußen” nicht ganz korrekt ist, es verfĂ€ngt sich in der Maske. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, unterdrĂŒcke bereits seit neunzehn Minuten den immer unertrĂ€glicher werdenden Hustenreiz, presse mit einer Wucht, die mir bis dato unbekannt war, gegen meine NasenflĂŒgel, um das enorm aufkommende Niesen nicht wahrwerden zu lassen, immer mehr Sekret dringt heraus, mein Zustand verschlechtert sich rapide. In Zeiten wie diesen kann man nicht einfach loshustniesrotzen. Exakt als die Vorleserin auf ihren literarischen, der zeitgleich auch den eindeutig sexuellen Höhepunkt darstellt, zusteuert, halte ich es nicht mehr aus, springe auf und laufe mit vollgefĂŒllter Sekretmaske Richtung Toilette, muss dabei aber zuerst an der Autorin, die die Hörenden bereits gĂ€nzlich in Ekstase versetzt hat, vorbei. “Na?”, fragt sie mich sĂŒffisant. “Entschuldigung, ich explodiere gleich!”, rufe ich ihr zu und alle lachen.

© Christian Kleber 2022-03-10