von Mariefu
Sollte ich einen Familienstammbaum zeichnen, wäre ich wohl überfordert. Die endlosen Verzweigungen über Generationen schufen unsere mutigen, starken Frauen. Ob gewollt oder nicht- das sei einfach mal dahin gestellt.
Vor 103 Jahren ließ sich Urgroßmutter in Berlin als Haushälterin mit einem verheirateten Gardeoffizier ein. Heraus kam meine Großmutter, mit der sie in Thüringen neu beginnen musste. Es kamen drei weitere Halbgeschwister hinzu, deren Vater früh starb. Die Geschwister bekamen acht Kinder, deren Herkunft bis heute teilweise nicht geklärt werden konnte. Es gab noch mehr Enkel und die Familie wuchs.
Meine Großmutter feierte während des Krieges ein Scheunenfest und verliebte sich in einen Soldaten, der später als Industrieller in Frankfurt Karriere machte. Das Ergebnis dieser Liaison war meine Mutter, zur gleichen Zeit gebar die Frau des Soldaten ein halb verwandtes Baby. Meine Großmutter blieb mit ihrem Nachwuchs allein zurück und wurde alsbald von meinem angeheirateten Großvater umworben. Als Jugendliche fand ich im Gästezimmer ihres Hauses einen Ordner mit wunderschönen Liebesbriefen. Leider gingen sie verloren, unwiederbringliche Zeitdokumente.
Zu meiner Mutter gesellten sich zwei Halbbrüder, mit denen sie nach Bewältigung der Nachkriegswirren in einem wunderschönen Haus mit riesigem Garten aufwuchs. In sehr jungen Jahren lernte sie dort meinen Vater kennen und kurze Zeit darauf wurde ich geboren. In den folgenden Jahren erblickten zwei weitere Mädchen das Licht der Welt, meine beiden Schwestern.
Wir lebten auf, als meine Mutter allein mit uns eine Wohnung bezog. Sie ging tagsüber arbeiten und da kam es dann zu aufregenden Szenerien. Unsere mittlere Schwester zückte gelegentlich große Küchenmesser, wenn ich als Hüterin der Süßigkeitendose auftrat. Sie hatte Temperament und so ganz sicher sind wir ihrer Abstammung bis heute nicht …
Unser Nesthäkchen dagegen präsentierte sich immer hübsch gekleidet im selbst genähten Ei-Ei-Kleidchen, meist hielt sie ihren Stoff-Affen im Arm. Damit wickelte sie alle ein, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht machen wollte. Und wenn mir alles zu viel wurde, schloss ich mich im Kinderzimmer ein, kroch mit der Taschenlampe unter die Bettdecke und schlug ein Buch auf. So konnte ich abtauchen, während die beiden ausharren mussten, bis ich wieder auftauchte.
Erst als ich erwachsen war erfuhr ich von der Halbschwester, die kurz vor mir geboren wurde. Wir lernten uns kennen und haben seither mitsamt unseren Familien guten Kontakt zueinander. Welch ein Gewinn!
Und nun habe ich die Tradition meiner Urgroßmutter und meiner Großmutter fortgesetzt und zog meine Kinder von verschiedenen Vätern, mit Ausnahme weniger Jahre, alleine groß. Allerdings mit dem Unterschied, dass wir im 21. Jahrhundert leben und ich mich nicht beklagen kann, ganz im Gegenteil.
Ich habe Glück gehabt: mit dem Leben, mit den Umständen, mit meiner Familie – ich liebe euch alle.
© Mariefu 2020-01-12