In wenigen Tagen steht der September vor der Tür. Endlich ist es soweit, ich freue mich auf dich. So lange hast du dich in mir entwickelt, bist zu dem gereift, was du heute bist. Ich kann dich spüren, fühle wie du dich bewegst und langsam heranwächst. Wir haben Stürme überstanden, starken Regen und große Hitze. Ich habe mich kaum bewegt, um nicht zu riskieren, dass dir etwas zustößt. Mir macht das nichts aus. Ich mag dünn sein, aber glaube mir: Ich bin stark genug. In mir bist du sicher. Ich habe dich noch nie gesehen, doch ich weiß, du bist ein Teil von mir. Ich habe dir mein Leben gewidmet, beschütze dich mit allem, was ich habe. Niemand weiß besser, was gut für dich ist, als ich.Die Tage vergehen und meine Nervosität steigt: Wirst du dich wohlfühlen? Freust du dich, auf dieser Welt zu sein? Freust du dich, mich zu sehen? Doch zuvor begeben wir uns auf eine Reise. Du wirst das Licht der Welt nicht hier erblicken. Es heißt, in der Ferne erwartet uns ein schöneres Leben. Und ich will nur das Beste für dich.Dann ist es Zeit. Es ist noch früh am Morgen, als wir abgeholt werden. Zusammen mit vielen anderen werden wir auf kleinstem Raum zusammengepfercht. Unsere Reise wird nicht angenehm, doch sie ist das Richtige für uns, da bin ich mir sicher. Es ist stockdunkel. So hast du dich die letzten Monate in mir gefühlt? Vertrau mir, wir schaffen das zusammen.Endlich: Wir sind angekommen. Ich sehe Maschinen um mich rum, viele Menschen. Es ist laut und hektisch. Plötzlich werde ich unsanft gepackt, gewaschen und hergerichtet. Ich fühle mich wie in einer Massenabfertigung, benutzt. Mir macht das nichts aus, solange es dir gut geht. Wenig später kann ich mein Glück kaum fassen. Du bist groß geworden und drängelst. Ich spüre, wie ich mich langsam öffne. Ich weiß, es geht dir gut. Du siehst das Licht, deine ersten Sonnenstrahlen. Doch du bist schüchtern, zeigst dich noch nicht. Fernab des Trubels, in der Wohlfühlzone, in der du großgeworden bist, fühlst du dich noch immer am wohlsten. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.Wir haben keine Zeit, unseren ersten gemeinsamen Moment zu genießen. Unsere Reise geht weiter. Wir sind noch nicht am Ziel. Wieder wird es dunkel. Diesmal für lange Zeit. Ich höre dich nicht, ich sehe dich nicht. Hast du Angst? Keine Sorge, ich passe auf dich auf.
Plötzlich ein grelles Licht. Wieder werde ich gepackt, mit unglaublicher Kraft. So sehr ich mich auch wehre, ich schaffe es nicht. Du wirst mir entrissen und von mir getrennt. Sie nehmen mir dich weg. Ich werde fallen gelassen, gebrochen in zwei Teile, zurück in die Dunkelheit. Im Fallen darf ich dich endlich sehen. Du siehst toll aus, gut genährt. Für einen kurzen Moment bin ich stolz. Bis ich sehe, wie du bestialisch zermalmt wirst. Auf einmal bist du weg. Ich habe dich enttäuscht. Ich konnte dich nicht beschützen, dir nicht mal einen Namen geben. Es tut mir leid, geliebte Pistazie. Deine Schale liebt dich.
© Sebastian Lühmann 2021-08-10