von Ines Grimmlinger
Ich riss das Steuer um, das Auto rutschte weg, zu meiner linken kam der Beton immer näher und ich schloss meine Augen. Das Reiben von Metall auf Beton war dröhnend, sodass ich dachte, ich würde taub werden, noch bevor ich sterben würde. Mach die Augen auf. Sofort riss ich die Augen auf, sah die Lichter des Lkws, die auf mein Auto zu kamen. Ich hörte die Hupe kurz vor dem Aufprall. Glas splitterte um mich herum und ich überschlug mich. Mein Kopf wurde hin und her geschleudert und meine Arme flogen durch die Luft. Ich hatte ein Lächeln auf den Lippen und die Zufriedenheit durchströmte meinen Körper. Kein Anflug von Zweifel, kein Bedauern, keine Angst. Ich war frei. Freier, als ich es mir jemals ausgemalt habe.
Du darfst noch nicht sterben. Ich rette dich. flüsterte eine Stimme.
Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich bekam Angst. Ich wollte das nicht. Ich wollte sterben. Einfach allem ein Ende machen. Doch dann kam das flaue Gefühl im Magen und die Furcht, die meinen Körper durchdrang. Das Schwarze Nichts war kurz davor von mir Besitz zu ergreifen. Es wäre bald alles aus. Jeder Gedanke, den ich jemals gedacht hatte, wäre ausgelöscht. Nur mein schlaffer toter Körper würde zurückbleiben. Ich würde kompostieren, zerfallen und irgendwann wär gar nichts mehr von mir übrig. Und sobald die Menschen, die ich kannte, starben, würde ich sogar in Gedanken und Erinnerungen sterben. Ich wollte wenigstens in Erinnerungen weiterleben. Und sobald diese Erinnerungen tot waren, würde nur noch ein Grabstein übrig bleiben, der den Schmerz am Leben erhält, der schon lange in Vergessenheit geraten war. Und das wollte und konnte ich nicht ertragen.
Es konnte jeden Moment passieren. Beruhige dich. Ich rette dich. Wieder diese Stimme. Sie war weder hinter mir noch in mir. Ich konnte es nicht beschreiben, sie war einfach da. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht. Mein Körper verkrampfte sich und mir blieb die Luft weg. Und auf einmal, als wäre nie etwas geschehen, saß ich wieder in meinem Auto, fuhr auf der Autobahn und sah den Lkw neben mir vorbeifahren. Als wäre ich in der Zeit zurückgesprungen zu dem Punkt wo ich mich entschieden hatte. Ich zitterte und die Schweißperlen liefen mir über die Stirn. Meine Mutter hätte vermutlich gesagt, dass das das Werk meines Schutzengels war. Nein, es war mein Verstand, vermutlich hatte ich einen Tagtraum oder, was unwahrscheinlicher war, eine Laune der Welt. Etwas Unerklärliches. Vielleicht war es auch ich. Indem ich es nicht wollte und doch leben wollte, hat mein Wille es geschafft, mich zurückzuversetzen. Nein, das klingt absurd. Ich hatte keine Erklärung. Wäre schön, wenn es mein Schutzengel gewesen wäre oder es wäre besonders cool gewesen, wenn ich Superkräfte hätte. Aber nein, es ist irgendeine unerklärliche Sache passiert, die ich weder begründen konnte, noch jemals können werde. Ich musste mich damit abfinden, dass ich das Leid weiter ertragen musste, obwohl ich es nicht wollte, aber sterben wollte ich noch weniger.
Ich fuhr heim, dachte kurzweilig nicht mehr daran und grübelte, ob ich jemals eine Antwort finden würde. Und zwar eine, die mich befriedigen würde. Glauben tat ich es nicht.
© Ines Grimmlinger 2023-08-27