Ich schenk dir einen Stern

Lotte Maria Kaml

von Lotte Maria Kaml

Story

Der Duft von Weihrauch steigt in meine Nase. Musik im Radio: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost was kommen mag…“ Siegfried Fietz begleitet mich bei den Weihnachts-Vorbereitungen. Bald ist es wieder so weit, der Heilige Abend naht mit schnellen Schritten. Schon zum zweiten Mal ist alles anders. Kein gemeinsames Kekse-Backen, keine strahlenden Kinder-Augen beim Besuch eines Weihnachtsmarktes. Traurigkeit schleicht sich in mein Herz.

Dann denke ich an meinen Vater. Er hat mir von einem Weihnachten erzählt, das er nie vergessen hat. Es war Krieg, er lag im Schützengraben an der Front. In Russland war es eisig kalt, viele seiner Kameraden hatten erfrorene Zehen und Finger. Die Nacht brach an, es klarte auf. Es war so hell, dass man die Geschütze des Feindes sehen konnte.

Es war totenstill. Mein Vater sah hinauf zum Himmelszelt. Er sah die blitzenden Sterne über sich. In seinem Herzen die Ungewissheit. Wie ging es der Familie daheim, lebten seine Lieben überhaupt noch? Es gab keine Möglichkeit, ihnen zu schreiben. Und es war Weihnachten. Da beschloss er, seine Deckung zu verlassen. Drei Kameraden begleiteten ihn. Sie stellten sich auf das freie Feld und begannen zu singen. „Stille Nacht, heilige Nacht…“ Dann begann etwas zu blinken. Dutzende Lampen zeigten in ihre Richtung. Die russischen Soldaten summten und sangen mit ihnen gemeinsam dieses Lied. Der Wind trug es weit übers Land.

In dieser Nacht fiel kein einziger Schuss. Am Morgen war das Feld verlassen. Im Schnee lagen, in Zeitungspapier gewickelt, zwei Wecken Schwarzbrot, geräucherte Würste und zwei Flaschen Wodka. Die Soldaten waren so aus gehungert, dass sie das Brot noch in halb gefrorenem Zustand aßen. Auch so kann Weihnachten sein.

Wir sollten aufhören, uns ständig zu beschweren, zu kritisieren. Nur, weil auch unsere Generation eine schwierige Zeit zu bewältigen hat. Seien wir dankbar dafür, dass es uns so gut geht. Für den Frieden in unserem Land, ein funktionierendes Gesundheits-System, für die Hilfe, die jeder von uns bekommt, wenn er sie braucht. Für die warme Stube, dass wir mehr als genug zu essen haben, für den Fortschritt in Medizin und Technik. Für all die Menschen, die ihr Bestes geben, damit wir gut durch diese Pandemie kommen. Für alles, was wir haben.

Machen wir uns bewusst, wie privilegiert wir sind. Wir müssen nicht nach teuren Geschenken suchen und in Hektik verfallen. Lernen wir wieder, zu teilen. Nicht nur Geld, auch Rücksicht und Verständnis für andere sind teilbar. Frieden und Gesundheit. Das ist alles, was zählt. Schau hinaus. In die Nacht, hoch zum Himmelszelt. Auch wenn wir nicht zusammen sein können, ich weiß, wo du bist. Dass es dir gut geht. Dass wir vertrauen können. So wie mein Vater damals, in dieser Heiligen Nacht.

Und darum möchte ich ihn dir heute schenken: Den Stern, der den Weg in mein Herz gefunden hat: Diesen Stern, der schon seit Tausenden von Jahren für uns leuchtet. Den Stern der Hoffnung und der Zuversicht.

© Lotte Maria Kaml 2021-12-10

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