Ich sehe dich

Es war schon weit nach zwölf in einer warmen Sommernacht. Eine Freundin hatte sie an der Ecke abgesetzt, wie schon so oft. Sie war siebzehn und zierlich, aber hatte sonst keine Angst davor, die letzten Meter bis zum Haus ihrer Eltern alleine zu gehen. Schließlich lebten sie nicht in einer schlechten Gegend oder an einer einsamen Landstraße, an der sie niemand schreien hören würde. Heute war es anders. Heute hatten sie sich den ganzen Abend Horrorfilme angesehen, in denen jungen Frauen wie sie nach und nach hingerichtet wurden. Eigentlich mochte sie Horrorfilme, aber die Filme am heutigen Abend waren niveaulos und ein reines Gemetzel. Deshalb kam sie sich dumm vor, dass sie sich teilweise wirklich erschrocken hat. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte von einer unbekannten Nummer eine Whatsapp Nachricht bekommen.

Ich sehe dich. Dreh dich nicht um!

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr ganzer Körper spannte sich, ihr wurde eiskalt und sah sich panisch um. Das war nur ein Scherz. Sie hatte zu oft gesagt, dass die Filme blöd und nicht gruselig gewesen sind. Trotzdem versuchte sie weiter, jemanden zu sehen. Die komplette Straße war mit Laternen gut ausgeleuchtet. Wenn sich jemand verstecken wollte, musste er sich in einen der Gärten gelebt haben. Die niedrigen Zähne hätten ihn sonst nicht verdeckt. Mit immer noch rasendem Puls ging sie weiter. Alles war gut, es war nur ein Scherz. Nur ein geschmackloser Scherz. Dann vibrierte ihr Handy wieder. Diesmal blieb sie nicht stehen, um die Nachricht zu lesen.

Ich sehe dich. Dreh dich nicht um!

Es war nur ein Scherz, trotzdem ging sie jetzt schneller. Sie konnte das Haus ihrer Eltern schon sehen. In ihrer kleinen Handtasche suchte sie ihren Schlüssel. Das Gefühl ihn in der Hand zu halten, gab ihr Sicherheit. Sie wusste, dass sie fast Zuhause war. Ihr Handy vibrierte wieder. Sie wollte nicht wissen, ob es wieder die Nachricht war. Dann vibrierte ihr Handy noch einmal und nochmal, so als würde er wissen, dass sie die Nachrichten nicht liest. Plötzlich bemerkte sie, dass es in dem Busch neben ihr raschelte. Obwohl sie wusste, dass es falsch, war blieb sie stehen. Geh weiter, geh einfach weiter. Doch sie wollte wissen, was oder wer dort war. Nach einer endlosen Sekunde kam die Katze des Nachbarn aus dem Busch. Sie kam sich so dumm vor. Ihr Handy vibrierte wieder, weshalb sie weiter ging und schon fast lief.

Da war das Haus ihrer Eltern. Sie betrat den Hof und hatte den Schlüssel schon in der Hand. Langsam atmete sie durch und die Anspannung ließ nach. Alles war gut, es war nur ein Scherz. Vor der Haustür nahm sie ihr Handy in die Hand. Die letzten Nachrichten waren von Bekka, die wissen wollte, ob sie gut angekommen ist. Sie war wohl doch nicht so mutig, wie sie gedacht hatte. Dann nahm sie den Schlüssel und wollte die Tür gerade öffnen, als sich eine kalte Hand auf ihren Mund legte.

Ich habe doch gesagt, dass du dich nicht umdrehen sollst.