von Libero
Nun steh ich hier und blicke in den Abgrund. Ich warte auf die richtige Gelegenheit. Ich bin eins mit allem und neugierig auf die Erfahrung vor mir. Ich möchte nicht länger warten. So geborgen es hier mal war, nun wird es mir eindeutig zu eng. Ich möchte endlich wissen, was auf der anderen Seite auf mich wartet. Auch wenn alles ungewiss ist, ich hole tief Luft und springe. Ich spüre den Wind des Lebens auf meiner Haut und bemerke, dass ich den Boden vor mir nicht sehen kann. Er ist im Nebel verborgen. Ich weiß also nicht, wann ich aufprallen werde, nur dass ich jetzt so intensiv lebe wie nie zuvor in dem Wissen, jederzeit aufprallen zu können und es dann vorbei ist. Zumindest dieser Flug, diese Reise durch mein Leben, ist dann zu Ende.
Der Tot und die Geburt haben vieles gemeinsam. In beiden Fällen wissen wir, dass es dort wo wir gerade sind keine Zukunft mehr gibt und wir eine Transformation durchmachen müssen. In beiden Fällen wissen wir nicht, wie es auf der anderen Seite aussehen wird und doch gibt es kein Zurück.
Einen ähnlichen Prozess durchlaufen wir sogar beim Einschlafen. Unvermeidbar kommt jener Moment, den wir nicht mehr bewusst wahrnehmen, an dem wir uns dem Schlaf hingeben, wohlwissend, was uns auf der anderen Seite erwartet: ein neuer Morgen. Dieser könnte wie ein neues Leben sein, ganz unberührt und unbeschrieben wie ein weißes Blatt. Doch sobald wir aufwachen, beginnt die morgendliche Routine und wir treten ein in die Tretmühle des Alltags. Scheinbar wollen wir es so. Sich täglich neu zu erfinden wäre auch sehr anstrengend auf die Dauer – theoretisch aber möglich; jeder Tag die Chance für ein neues Leben.
Die Geburt ist wie ein Sprung ins Ungewisse. Gewiss ist nur, dass wir früher oder später auf den Boden aufschlagen werden. Er ist nicht sichtbar. Klar wir wollen uns nicht täglich damit auseinander setzen, dass das Leben mit jedem neuen Tag auch vorbei sein könnte. Neugeburt und Tod liegen so nahe beieinander und trotzdem leben wir jeden Tag fast genauso wie den vorangegangenen, als würden wir ewig leben und verdrängen damit den täglich kleinweise stattfindenden Tod aus unserem Bewusstsein.
Doch wer will ewig leben? Ist es nicht eine verstörende Vorstellung, wie der Highländer ewig auf der Erde gefangen zu sein? Ich meine nicht für hunderte oder sogar tausende Jahre. Milliarden Jahre würde ich das hier eigentlich nicht mitmachen wollen.
Erst weil ich weiß, dass mein Leben früher oder später vorbei und dadurch erst jeder Tag umso kostbarer ist, bekommt erst alles einen Wert. Sonst könnte ich jegliche Vorhaben ja auch morgen, übermorgen oder in 10.000 Jahren erledigen – also quasi nie, weil dann wirklich alles gänzlich unbedeutend ist. Heute, morgen oder irgendwann – wozu dann überhaupt?
So gesehen ist der Tod mein Freund, der meinem Leben und jedem einzelnen Moment erst einen Wert gibt. Alles hat seinen Sinn, auch der Tod. Ich nehme das Geschenk des Lebens dankend an kann jetzt meinem Schicksal komplett angstfrei entgegen gehen.
© Libero 2020-05-25