von Sonja M. Winkler
Würde mich jemand fragen, wann ich eingeschult wurde, doch mit einer Jahreszahl dürfte ich nicht antworten, dann würde ich sagen, es war in der Zeit, als im Radio ständig von Chruschtschow die Rede war. Ich hatte diesen Namen so verinnerlicht, ohne zu wissen, wer das war, dass Folgendes passierte:
In den Sommerferien nach meinem ersten Schuljahr musste ich meiner Mutter aus dem Kasperle-Buch, das ich zu Weihnachten bekommen hatte, laut vorlesen. Da in dem Buch ein Christoph vorkam, las ich statt [kristof] immer [kruschtschof]. Meine Mutter besserte mich jedes Mal aus. Das machte Eindruck auf mich. Warum wusste sie, dass ein Bub nicht Chruschtschow heißen kann? Jedenfalls erließ sie mir dann das laute Vorlesen. Stattdessen erhielt ich den Auftrag, das Buch abzuschreiben. So saß ich im Sommer 1962 jeden Tag für eine Stunde am Küchentisch und schrieb.
Bevor ich in die 1. Klasse kam, löste der Gedanke an das, was mir ab Herbst bevorstehen würde, eine Mischung aus Angst (meine Mutter drohte manchmal, wiast scho seng, waunn du in die Schui kummst) und Wut aus, weil ich überzeugt war, sie hätte der Behörde verraten, erstens, dass es mich überhaupt gibt, zweitens, dass ich im Mai sechs Jahre alt werde. Wenn sie geschwiegen hätte, dachte ich, hätt ich mich vor der Schule drücken können. Ich wusste ja nicht, dass es seit Maria Theresia so etwas wie eine Schulpflicht gibt.
Am Tag der Schuleinschreibung gingen wir beide zu Fuß zu den Kasernen. In der letzten war die Volksschule untergebracht. Die Direktorin, die meine zukünftige Klassenlehrerin sein würde, fragte mich freundlich nach meinem Namen. Ich sagte, dass ich ihn schon schreiben kann. Sie reichte mir Papier und Bleistift. Es folgte der damals übliche Schulreife-Test. Ich musste aufrecht sitzen und den rechten Arm über den Kopf legen. Das Ohr auf der linken Seite erreichte ich spielend.
In der Schule blühte ich auf, denn ich war neugierig und ehrgeizig. Wenn ich heimkam, erzählte ich meiner Mutter klitzeklein alles, was im Unterricht vorgefallen war. In meinem Redeschwall war ich kaum zu bremsen, was meine Mutter sogar heute noch erwähnt, wenn das Thema „Schule“ angeschnitten wird.
Die Schulsachen behandelte ich wie wertvolle Kleinodien: die Federschachtel aus rotem Leder, die so gut roch, die gespitzten Buntstifte, der Steckkasten mit den aus Karton gestanzten Wörtern und Buchstaben, die man zu Sätzen zusammenfügen konnte.
Meine Schultasche war ein handlicher, doch robuster Schulranzen, viel kleiner als die riesigen Plastikdinger, die die Erstklässler heute auf dem Buckel tragen. Er stammte aus dem Besitz der um 10 Jahre älteren Cousine. Das dunkelbraune Leder war speckig und abgenützt. Wenn ich die zwei Laschen durch die Dornschnallen zog und festzurrte, ringelten sie sich ein.
Am Nachmittag, nach getaner Hausaufgabe und mehreren Zierleisten, spielte ich mit dem Abakus, schob bunte Holzkügelchen hin und her und machte so manche Entdeckungen im Zahlenbereich 100.
© Sonja M. Winkler 2022-09-06