Ich wär so gern bei Dir!

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story
Konstanz 1980

„Ich wär so gern bei Dir!“ Diese Worte standen auf der Karte, die Frau Vogel aus einer Schublade ihres Wohnzimmerschranks holte.

Ich kannte Frau Vogel aus der evangelischen Gemeinde, in der ich als Berufsanfänger arbeitete. Sie war über 80 Jahre alt. Fast jeden Sonntag kam sie zum Gottesdienst, saß dort meist allein in einer Bank. Manchmal setzte sich eine andere ältere Frau neben sie, die sie von der Seniorengruppe der Gemeinde kannte.

Auch in der Seniorengruppe, redete Frau Vogel nicht viel mit den anderen Teilnehmerinnen. Sie war eine ausgezeichnete Bridgespielerin. Aber über das Spiel und das gemeinsame Kaffeetrinken hinaus, Es ging das Gerücht, sie habe sich mit allen anderen Menschen verkracht, die versucht hätten, mit ihr einen näheren Kontakt zu bekommen.

Einmal allerdings blühte sie regelrecht auf, als sie in der Seniorengruppe ihre Puppensammlung vorstellen durfte. Annähernd 30 Puppen hatte sie dabei und konnte zu jeder etwas Interessantes erzählen, woher sie kam. wie alt sie war, was ihren speziellen Charakter ausmachte und was sie wert war. An diesem Nachmittag stand Frau Vogel ganz im Mittelpunkt. Sie wurde befragt und genoss es, wie ihre Kompetenz bewundert wurde. Sie hat gestrahlt und das hat angehalten bis zu herzlichen Verabschiedungen mit allerdings schon wieder sehr zurückhaltend ausgesprochenen Einladungen, sie doch einmal zu besuchen. Sie habe noch mehr Puppen zu Hause. Ob einer der anderen Frauen ihre Einladung gehört und vor allem angenommen hat, das weiß ich nicht. Beim nächsten Zusammentreffen war jedenfalls wieder die alte Frau Vogel zu erleben.

Sie lebte in einer gutsitueirten Wohngegend der Stadt Konstanz am Bodensee mit Blick über den See. Mit ihr im Haus wohnten sieben andere Frauen, meist Witwen. Mit keiner von ihnen hatte sie näheren Kontakt. Auch hier das Gerücht, sie habe sich mit allen anderen Menschen verkracht …

Eine meiner Aufgaben in der Gemeinde war es, Menschen kennenzulernen und mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Ich vereinbarte mit ihr einen Besuch. Das freute sie, machte sie aber auch nervös, wie sie mir schon vor unserem Treffen erzählte. Sie freute sich, dass sie endlich einmal Besuch bekam. Sie war nervös, weil sie das gar nicht gewohnt war.

Der Kaffeetisch war wunderbar gedeckt. Zum ersten Mal nach mehr als zwei Jahren hatte Frau Vogel wieder einen Kuchen gebacken. Zum ersten Mal kamen Frau Vogel Tränen, als sie erzählte, dass schon vor 20 Jahren ihr Mann gestorben war und sie ihn jeden Tag vermisste. Angesprochen auf das Bild einer Frau im mittleren Alter erfuhr ich, dass das ihre Tochter war, die aber nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Schließlich zog sie eine Schublade ihres Wohnzimmerschranks auf und holte diese Karte heraus, auf der stand: „Ich wär so gern bei Dir!“

„Ich kann diese Karte keinem Menschen schenken oder schicken, weil ich keinen Menschen kenne, der Du zu mir sagt!“ Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

© Theodor Leonhard 2025-03-08

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Romane & Erzählungen
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Emotional, Traurig
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