von Tobias March
Zimmer 208 – Lorenz N.
Lorenz N. kannte ich gar nicht anders, als das er zitternd in seinem Stuhl saß, an seinem Platz am großen Esstisch und wartete. Er hatte Parkinson, seit Jahren schon zitterte er, tagaus und tagein. Wenn er am Morgen aufstand, zitterte er, lag er im Bett, zitterte er. Wenn er gewaschen wurde, zitterte er. Beim WC-Gang zitterte er. Den ganzen Tag über saß er am Tisch, am selben Fleck. Ich putzte, redete, spielte mit den anderen Bewohnern, versuchte mit ihm zu reden, doch er saß meist nur stumm da.
Was ist das für ein Leben, dachte ich mir oft. Der arme Mann, was hat er noch von seinem Leben. Und es kam noch schlimmer, denn die Pflegerinnen erklärten mir, wie jung er doch eigentlich sei. Durch seine eingefallene Haut, viele Falten und Ringe unter seinen Augen dachte ich, er müsste schon 80 Jahre sein. Er lief auch sehr langsam, oftmals musste ich ihn am Arm nehmen und ins Zimmer begleiten. Nein, er war für mich nicht mehr jung. Doch sie erklärten mir, dass das alles nur die Krankheit und ihre Symptome sei. Eigentlich sei er nicht älter als 60. Das erklärte so Einiges. Mir war nämlich schon vor dieser Erkenntnis ein Missgeschick passiert. Eines Tages, nachdem ich aus der Pause wieder zurück war, saß eine Frau neben ihm am Tisch und fütterte ihn. Ich fragte dann höflich nach, ob sie seine Tochter sei, denn ich wusste, dass er Kinder hatte. Die Frau sah im Vergleich zu ihm wirklich jung aus. Sie schmunzelte und verneinte, sie wäre seine Frau. Mir war das unendlich peinlich.
Sie kam nur alle zwei Monate einmal vorbei, für eine Stunde sah sie nach ihm, gab ihm was zu essen, lachte oder redete mit ihm, und dann ging sie wieder.
Ich konnte es so schwer verstehen, wie konnte sie ihn so viele Tage alleine lassen. Es war doch ihr Mann, auch wenn er krank war. Auch seine Kinder kamen nie zu Besuch. Es hing sogar ein Bild von einem Enkelkind im Zimmer. Ein Mädchen mit braunen Zöpfen und einem pinken Prinzessinnenkleid, das im Garten spielte.
Warum kamen sie nie vorbei? Der arme Mann konnte ja nichts für seine Krankheit.
Doch auch hier belehrten mich die Pflegerinnen eines Besseren. Aber sicher könne er was für die Krankheit, er wäre Alkoholiker gewesen. Alkoholkrank und immer hätte er getrunken. Viel zu viel. Star-Architekt in der Schweiz und dann: Tiefer Absturz, Parkinson, morgens bis abends ein Zittern das durch seinen Körper fuhr. Und er, unfähig noch irgendwas zu tun. Unfähig noch irgendwas zu entwerfen, zu zeichnen, zu skizzieren. Nun saß er da, im Heim und alleine.
Ich sah oft mit ihm Fotoalben an, er saß am Tisch mit seiner Frau, Geschäftspartnern und den kleinen Kindern. Ob er dasselbe sah wie ich? Ob er diese Urlaubs- und Arbeitstage in Monaco vermisste? Ob er gerne wieder zurückginge an den Strand, um Sandburgen mit seinem Sohn zu bauen? Ich wüsste gerne, ob er die Zeit verfluchte, die ihm nichts gesagt hatte und so schnell verstrichen war. War er jetzt auch glücklich oder quälte ihn alles nur noch?
© Tobias March 2021-08-13