von Anita Hetzenauer
Unsere Nachbarn haben seit zwei Wochen eine neue Katze. Schon in den ersten Tagen wurde sie extra für uns aus dem Haus geholt und wir durften sie über den Gartenzaun hinweg bewundern. Sie ist eigentlich ein Er, ein junger, roter Kater mit frechem Gesicht. Wir erfuhren, dass er Ignaz heißt und nicht Herzchen, wie wir gerüchteweise gehört hatten. Die Kinder verliebten sich sofort in ihn und auch wir fanden ihn auf Anhieb sympathisch.
Über eine Woche lang musste Ignaz gegen seinen Willen im Haus bleiben, damit er sich angewöhnen konnte. Vor drei Tagen durfte er endlich zum ersten Mal in den Garten. Wir beobachteten ihn, wie er selig im Baum turnte und durch das Gras schlich, bevor er abends wieder ins Haus musste. Wenig später hörten wir Ignaz jämmerlich miauen. Richtig laut. Wir blickten uns an und bedauerten unsere Nachbarn, die vermutlich gerade eine große Packung Ohropax kauften, damit sie das Gejammere aushielten. Bei ihnen drüben im Haus musste es unerträglich sein. Dieser Kater besaß einen starken Freiheitsdrang, darin waren wir uns einig.
Obwohl der Nachbargarten wegen der nahen Bundesstraße ausbruchsicher eingezäunt war, sah ich Ignaz gestern durch unseren Garten schleichen. Ich staunte. Dieser Kater schien ein überdurchschnittlich begabtes Kerlchen zu sein. Abends hörte ich ihn wieder miauen und ich überlegte, ob wir uns auch Ohropax zulegen sollten.
Als ich heute von der Arbeit kam, sprang Ignaz von unserer Gartenbank und versteckte sich darunter. Gleich zwei Tage hintereinander auszubüxen, hätte ich nicht einmal ihm zugetraut.
Womöglich vermissten ihn unsere Nachbarn schon. Deshalb, und weil Ignaz schon wieder jämmerlich zu miauen begann, läutete ich nebenan.
„Ignaz ist bei uns und er weint schon wieder fürchterlich“, erklärte ich meiner Nachbarin.
Sie blickte mich entsetzt an und ich bekam schlagartig ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so schonungslos ausgedrückt hatte.
Wortlos drehte sie sich um und verschwand sichtlich beunruhigt im Haus. Eine Minute später kam sie wieder. Im Arm hielt sie Ignaz, der sich genießerisch an ihren Pullover kuschelte. Wie hatte der nur so schnell heimgefunden?
„Ignaz miaut eigentlich nie!“, erklärte sie mir.
Ich kapierte überhaupt nichts mehr. Irritiert ging ich heim. Dort saß Ignaz unter der Bank und jammerte. Bei genauem Hinsehen hatte dieser Ignaz zwar dieselbe Statur, aber ein dunkleres Fell. Er gab eindeutig zu verstehen, dass er nicht gestreichelt oder gefangen werden wollte, schien Futter gegenüber aber nicht abgeneigt. Mit vollem Bauch jammerte er nicht mehr. Vielleicht hatte ich nicht die richtige Sorte Futter serviert, oder er bekam Heimweh, denn nachdem er gefressen hatte, verschwand er genauso unbemerkt, wie er gekommen war. Vielleicht besucht er uns irgendwann wieder. Ein kleines bisschen hätte ich schon angefangen, ihn gern zu haben.
© Anita Hetzenauer 2021-11-06