von Anne Pollenleben
Sie wussten, dass es in jedem Land kleine dunkle Flecken gab, über die sich intelligente und nachrichtenlesende Menschen in kleinen Gesellschaften mit Kippe und Whiskey aufregten, teilweise, wenn der Abend vorangeschritten ist, amüsierten. Im Westen gab es nur ein scheinbares Paradies, es war nur im Osten real und das, weil man im Nebel des Trabi Gestanks nicht klar denken konnte. Wenige Dinge konnte man nicht leugnen, der Kaffee schmeckte stark, die Kippen führten zur Abhängigkeit und die Unterhosen kratzten nicht mehr. Doch als junger Mensch konnte man auch hier drüben betrunken philosophieren, Fäuste durch die Lüfte schwingen und übermüdet zur Arbeit gehen. Es machte plötzlich keinen Unterschied, wo er im Land heimlich ins Gebüsch pinkelte. Hauptsache er geriet nicht ins Fegefeuer. Denn, ob er Angst vor der Stasi oder vor einer Abschiebung hat, interessiert das Gefühl nicht. Angst bleibt Angst. Ins Gebüsch pinkeln bleibt ins Gebüsch pinkeln. Vom Gartenzaun lehnend, bringt er sich in Bewegung und geht in den Betonklotz, auch Haus der Tante genannt.
„Du musst dir einen Plan machen, Junge! Kannst nicht einfach die Damen aufmischen und glauben, mit ihnen auf heile Welt zu spielen. Brauchst auch gar nicht mit Mitleid kommen, ich weiß, wie es bei euch- „. Er unterbrach sie.
„Hab Knast.“
„Glaube mir, das Gefängnis hier ist auch nicht aus Zucker.“
„Ne, ich habe Hunger!“, er strengte sich wirklich an, seinen Dialekt abzulegen.
Natürlich war der junge Mann dankbar, dass er ein Dach überm Kopf hat, aber man merkte der Tante den Unmut an. Er durfte allein aus Gründen der familiären Pflicht, die hier anscheinend auch etwas bedeutete, bei ihr bleiben. Dafür musste er aber als vollwertiges Familienmitglied am Haushalt beteiligt sein und seinen Pflichten nachgehen, was hier Geld bezahlen heißt. Zu Hause reparierte er die Autos oder holte Kanister frischer Milch vom Bauer – als Gegenleistung. Im Westen geht es jedoch ums Geld. Haste keins, biste nischt. Musste arbeiten gehn, oder heem.
Seine Tante tischte ihm das Essen auf, was er erkalten ließ, weil Dora anrief. Sie ist zwei Jahre jünger als er, aber das störte beide nicht. Nur ihr Vater war sehr eigen, aber wer war das hier nicht.
Einmal besuchte er Dora auf der Baustelle ihres Vaters, um sich als Arbeitskraft vorzustellen. Bevor er es dahin schaffte, zog ein feiner Geruch an ihm vorbei. Die Angestellten von Doras Vater rauchten ganz anderes Zeug, besseres.
Irgendwann fand er sich am Essenstisch von Doras Eltern wieder.
„Ich gehe seit 35 Jahren arbeiten, denkst du, du kannst hier einfach, ohne etwas vorweisen zu können, herkommen und meine kleine Dora verführen.“ Er wandte sich zur ihr: „Du gehst nirgendwo hin, erst recht nicht rüber“. Damit meinte er die Herkunft des Jungen. Dort, wo sein Vater um ihn weint, weil er nicht weiß, ob er lebt oder gestorben ist. Vielleicht sollte er das Paradies wieder verlassen, dachte er. Dora wird auf ihn warten und dann bauen sie sich ein eigenes Paradies.
© Anne Pollenleben 2021-06-04