von Eva Filice
Die Venezianer lieben ihren Il Paron de Casa, wie sie den „Hausherrn“, den Campanile auf venezianisch liebevoll nennen. Il Campanile steht frei am Übergang von der Piazza San Marco zur Piazetta. Ursprünglich wurde der heutige Glockenturm der Basilika San Marco im 9. Jh. als Wachturm für das Hafenbecken von Venedig gebaut. Das Wasser reichte damals bis zum Turm. Im Laufe der Jahrhunderte wurde il Campanile mehrfach verändert. Im 16. Jh. erhielt er eine pyramidenförmige Spitze mit dem vergoldeten Erzengel Gabriel, der sich je nach Windrichtung dreht.
Im Campanile befinden sich die fünf Glocken von San Marco. Bei vielen Kirchen Italiens ist der frei stehende Glockenturm typisch. Jede Glocke trägt einen Namen, der noch aus der Zeit der Seerepublik stammt, und jeder Glocke wurde eine bestimmte Bedeutung zugeordnet. Die größte Glocke mit dem Namen Marangona ertönte zum Arbeitsbeginn und zum Feierabend. „Marangona“ bezeichnete ursprünglich die bedeutende Zunft der Zimmerleute. Der Begriff wurde vereinfacht zu „Arbeiter“, daher das Läuten zu Beginn und am Ende der Arbeit. Die kleinste Glocke, Maleficio (Übeltäter), kündigte bei Verbrechen, die mit dem Tode bestraft wurden, das Urteil an. Die Nona machte auf die neunte Stunde des Tages aufmerksam. Die Pregadi rief die Senatoren im Dogenpalast zusammen. Das Erklingen der Trottiera forderte bis ins 14. Jh. die Verwaltungsbeamten auf, sich zu den Sitzungen in den Palazzo Duale zu begeben. Auch noch heute ertönen die Glocken von San Marco in dem 98,6 m hohen Turm.
Die Loggetta (ital. für „kleine Loggia“) am Fuß des Campanile mit Blickrichtung auf die Basilika und den Palazzo Ducale wurde zwischen 1537 und 1546 errichtet. 1663 wurde sie um eine Terrasse und eine Balustrade erweitert. Die Tugenden, die dem Staat zugeschrieben wurden, verkörperten allegorische Figuren: Apoll, Pax, Minerva und Merkur. La Loggetta diente den Patriziern der Stadt als Versammlungsort. Die Skulpturen und Reliefs verherrlichen die Republik Venedig mit allen ihren Tugenden („Geschicklichkeit im Krieg und beim Handel, politische Eintracht, Redegewandtheit ihrer Protagonisten“). Die Friedensliebe und die Protektion durch den Evangelisten Markus werden auch dargestellt.
Beim Versuch 1902 einen Lift einzubauen, bestand für den Campanile große Einsturzgefahr, denn es zeigten sich Risse in den Mauern. Musikkapellen wurde es untersagt auf dem Markusplatz zu spielen. Doch der 14. Juli 1902 war ein Unglückstag für die Stadt, der die Bewohner:innen Venedigs erchütterte. Der Turm stürzte ein, die Loggetta mit dem wertvollen Figurenschmuck wurde völlig zerstört. Zum Glück kamen beim Einsturz keine Menschen zu Schaden, und auch die Basilika blieb vor Schäden verschont. Der Wiederaufbau dauerte bis 1912. Der Turm wurde nach dem Motto: „com’era e dov’era“ mit den alten Steinen in derselben Form errichtet. Ein Lift bringt nun die Tourist:innen gefahrlos zur Aussichtsebene, dort bietet sich eine gute Rundumsicht. Leider war der Turm im Jänner gesperrt, erst im Frühling wird er wieder zugänglich sein. Voll Bewunderung stand ich vor diesem Wahrzeichen Venedigs und stellte mir vor, wie oft er bereits mit „nassen Füßen“ dem aqua alta standhalten musste.
© Eva Filice 2025-02-15