Im Abendsonnenschein

Das sanfte Abendlicht berührt die Landschaft und mein Herz. Die Hitze des Tages hat sich im beginnenden Tau auf die Felder gesenkt. Ein milder Abendwind streichelt meine Wangen – wie einst deine Hand.

Ich bin sanft geworden. Du glaubst immer noch, deine Meinung laut kund tun zu müssen. Dabei habe ich die Sanftheit im Umgang mit den Enkelkindern gespürt. Deine Sanftheit – sie hat mich berührt wie der milde Abendsonnenschein. Es tut gut, an nichts mehr festhalten zu müssen – nicht am Tag und nicht an dir.

Du nimmst meine Worte, zerpflückst sie und fügst sie neu zusammen, mischt sie mit deiner Wahrheit und wirfst sie mir zurück. Ich bitte dich, leiser zu sprechen. Und doch, die Stille, die Leere ohne dich – ich würde dich schmerzlich vermissen.

Die Liebe ist kein Thema mehr. Das Nebeneinander ist Verbundenheit. Zur Vertrautheit fehlt noch ein Stück – wenn wir nicht mehr urteilen, nicht mehr interpretieren, nicht mehr unsere Sehnsucht in den anderen projizieren – wenn wir unser Unglück sagen können.

Mitgefühl, liebende Güte und Mitfreude – die buddhistischen Tugenden haben wir noch nicht ganz erreicht, aber wir sind auf einem guten Weg. Die Übel – Leidenschaft, Begehren, Unwissenheit – daran arbeiten wir. Es ist schön und not-wendig, gemeinsam alt zu werden.

Wir werden immer noch am Du.

Wenn wir vollkommen wären, hätten wir einander nicht nötig.

Dieses Gedicht von Giovanni Prati möchte ich dir widmen:

Hör zu, geliebtes Herz! Wenn ich dich je

Noch einmal träfe in dem weiten Raum,

Genannt die Erde, wo das Glück ein Traum

Und wo die Seele stöhnen muss vor Weh,

Wird mir ein freundschaftliches Lächeln glücken,

Gedenkend unsrer Liebe gold’ner Zeit?

Ich würde die Hand dir reichen, ohne Streit,

Du würdest sie nehmen und ein wenig drücken.

Manch heiße Träne würde vielleicht dann rinnen,

Wenn wir des alten Hoffens und schon

Verfloss’ner Sonnentage uns besinnen.

Es mag bei dieser Vision

Ein Abendlüftchen uns Begleiter sein

und mitleidsvoller Abendsonnenschein.