Es war ein Sonntagabend, an dem mir bewusst wurde, dass ich eine Schisserin bin. Seit Tagen hingen die ein oder anderen Gedanken in meinem Kopf fest und wollten sich vehement als Dauermieter einnisten, doch damit war ich nicht einverstanden. Es war hauptsächlich Angst, die ich verspürte. Angst, nicht gut genug zu sein, Angst, eine Freundin zu verlieren, Angst, meine Beziehung an die Wand zu fahren. Angst, war mein Begleiter beim Einschlafen und beim Aufstehen. Normalerweise lagen die Ängste außerhalb meines Körpers und meines Geistes. Wir alle schaffen es, eine gewisse Schutzmauer aufrecht zu erhalten, sodass es sich viel mehr um Sorgen handelt – um die kleinen Geschwister von ausgeprägten Ängsten. Doch diese Mauer war durch den permanenten Stress eingefallen. Zahlreiche Gedanken drangen direkt in mein Innerstes hinein, ohne von irgendeinem Hindernis aufgehalten werden zu können. Also lag ich dort, in meinem Bett – wieder einmal allein mit all diesen Sorgen, die zu Ängsten herangewachsen waren – als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. „Du lebst viel zu sehr im Außen.“ Tatsächlich war ich in letzter Zeit selten bei mir und viel zu sehr bei allen anderen. Ich legte eine Hand auf meine Brust und atmete tief ein. Mit jedem Atemzug schien eine innere Ruhe in mich hineinzuströmen. Kleine Helfer fingen an Ziegel heranzuschaffen und die Mauer Stein für Stein wieder aufzubauen. Ein weiterer Atemzug. Die Mauer stand. Ich fühlte mich stärker. Noch ein dritter Atemzug. Die Angst wurde kleiner, greifbarer. Die dazugehörigen Gedanken breiteten sich vor mir aus und entwirrten sich, sodass ich sie nun einzeln betrachten konnte. Ein weiterer Atemzug und die Helfer nahmen die Gedanken an der Hand, brachten sie zu ihrem zugehörigen Platz, wo sie nun flüsternd auf meine Aufmerksamkeit warten würden. Und in all dieser geschäftigen Bewegung in mir drin ein weiterer, schmerzlicher Gedanke. „Ich bin eine Schisserin.“ Gemeinsam mit einem Gefühl von Trauer und Wut kam auch ein Schmunzeln in mir hervor. Immerhin sehe ich es ein. Ich habe mich bisher viel zu sehr von den negativen Seiten des Lebens steuern lassen. Ich versuche mir dies nicht zu sehr vorzuwerfen, schließlich hat es mich zu der Person gemacht, die ich heute bin und mir zahlreiche wundervolle Menschen geschenkt. Doch vielleicht hat die Angst nun ausgedient. Nachdem sie mich jahrelang geschützt hat und mir geholfen hat, mich in eine sichere Position zu bringen, in der ich nur Personen um mich herum habe, die mir guttun, wird es nun Zeit sie loszulassen. Ich darf leben. Ich darf zweifeln, unsicher sein, stolpern, umkehren, Fehler machen und bereuen. Aber ich darf auch spontan sein, Ja zu Gelegenheiten sagen, mich trauen und wachsen. Und all das passiert eben nur, wenn du Angst als Feuer und nicht als Käfig nutzt. Es ist Sonntagabend und ich bin eine Schisserin. Aber ab jetzt, werde ich leben.
© Ida Porstendorfer 2023-07-02