Im Bann von Peter Pan

AmberNila

von AmberNila

Story

Träumen wir uns nicht alle manchmal in eine andere Welt voller Magie? Wie jedes Kind war ich fasziniert von Märchen, Zauber und Fabelwesen. Die Geschichten meiner Uroma boten all das – und noch viel mehr. Sie nahm mich mit auf eine Reise voller aufregender Abenteuer. In diesem Wunderland herrschten mystische Kräfte, die jedem Gesetz der Natur widersprachen. Dort warteten jedoch auch dunkle Gefahren und vor allem: die ganz großen Gefühle. Uroma Wendy hatte wirklich eine blühende Fantasie! Früher dachte ich, sie sei schlichtweg die beste Geschichtenerzählerin. Aber als ich älter wurde, merkte ich, dass diese Fiktionen ihre Realität waren. Sie lebte gar nicht im Hier und Jetzt. Genau diese verträumte Art hatte sie hierher gebracht. Wer konnte es ihr schon übel nehmen? War es nicht normal, diesem rauen, gemeinen Alltag für einen Moment entfliehen zu wollen? Ich jedenfalls tauchte gerne in die bunte Welt ein, die sie so lebhaft beschrieb. Es fühlte sich an, als wäre ich selbst dort. Ihre Worte zogen mich immer wieder in den Bann. Ich besuchte sie so oft es nur ging, um ihr Gesellschaft zu leisten und um zuzuhören. Sie starrte dabei in die Luft, als würde sie einen Film schauen. Ab und an hatte sie ihre klaren Momente. Dann sah sie mich aufgeregt an, griff meinen Arm und flüsterte den Namen von dem heimlichen Star ihrer Träume, von ihrer großen Liebe. Von demjenigen, der zu gut schien, um wahr zu sein. Der, dem einfach niemand das Wasser reichen konnte, weil er einfach zu unglaublich war – Peter Pan.

„Großmutter, lass das Kind los und hör auf mit deinem wahnhaften Geschwätz. Niemand will das hören!“ Da war sie wieder: meine Mutter. Ihre fiese Aura breitete einen dunklen Nebel aus, der schnell die Stimmung vergiftete. „Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Sie hat mal wieder Blödsinn von sich gegeben. Und Fräulein, ich habe doch gesagt, ich rede nur kurz mit den Ärzten. Du solltest warten. Ich habe dich im halben Krankenhaus gesucht. Los jetzt! Wir fahren.“ Der einzige Grund für ihren Besuch war, um mit dem Personal zu flirten. In ihrem Mini-Spiegel trug sie noch schnell Lippenstift auf und warf mir einen ungeduldigen Blick zu. Gerade als ich etwas sagen wollte, machte sie mir unmissverständlich klar, dass sie keine Widerworte duldete. Ihre strenge Miene hatte mich fest im Griff und zerrte mich wie eine Marionette aus dem Raum. Wendy konnte ich nur ein müdes Winken schenken, während die Herrin der Unterwelt sie mit Missachtung strafte. Sie stampfte schnellen Schrittes in ihren High Heels voran und verwandelte die Klinikgänge in ihren Catwalk.

Im Auto vor der Anstalt sah ich noch kurz dem tristen Gemäuer nach, das Wendy ihr Zuhause nannte. Mit Höchstgeschwindigkeit und ohne auf den Verkehr zu achten, manövrierte Mutter uns irgendwie heim. Ich war jedes Mal überrascht, dass wir überhaupt lebend ankamen, denn sie schaute mehr auf ihr Smartphone, als auf die Straße. „Warum können wir nicht länger in der Klinik bleiben? Sie fühlt sich bestimmt einsam.“ „Deine Uroma ist krank. Sie soll dir nicht so einen Mist einreden. Nachher endest du genauso erbärmlich wie sie.“ Keine Spur von Respekt, Toleranz oder Mitgefühl. Dass dieses bösartige Geschöpf wirklich besorgt um mich war, glaubte ich keine Sekunde.

© AmberNila 2024-09-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Angespannt
Hashtags