Im Bordell

SonjaUrbanek

von SonjaUrbanek

Story

Als ich im September 1996 meine Sprachassistentenstelle in Colmar, Frankreich, antrat, ahnte ich noch nicht, dass ich mich in einem Bordell wiederfinden würde.

Das allein war verwunderlich. Noch erstaunlicher freilich war, dass ich mich in jenem Bordell so pudelwohl fühlen würde, dass ich um Verlängerung ansuchte. Dieser Antrag wurde bewilligt. Aus unerfindlichen Gründen landete ich im Schuljahr 1997/1998 aber nicht im selben Bordell, sondern in einem noch viel größeren in Nancy. Auch dort war ich rundum zufrieden.

Jetzt aber zurück zum Anfang. Ich hatte das Kollegium kennengelernt und betrat nun, noch in Begleitung der französischen Deutschlehrerin Colette, die Klasse.

Dort ging es drunter und drüber. Eine Horde Zwölfjähriger tobte in ihren Bänken, und Colette musste sich erst Gehör verschaffen, ehe sie zum Unterricht überging.

„C’est le bordel ici!“, sagte sie entschuldigend zu mir. „Das ist ein Bordell hier!“ Interessant. Franzosen bezeichnen es also als „Bordell“, wenn in einer Klasse der Bär los ist.

Das französische Wort „bordel“ ist, wie ich erfuhr, im Zusammenhang mit schulischen Verhaltensweisen so beliebt, dass es sogar zu einem Verb („bordéliser“) und zu einem Adjektiv („bordélique“) umfunktioniert wurde. So klagten die Lehrer in den Pausen: „Les élèves me bordélisent!“ („Die Schüler bordellisieren mich!“) oder auch: „Les élèves sont bordéliques!“ („Die Schüler sind bordellisch!“) Auch wurde ich gewarnt, mir nichts gefallen zu lassen: „Ne te laisse pas bordéliser en classe!“ („Lass dich in der Klasse nicht bordellisieren!“).

Aber es kam noch schlimmer. Nicht nur, dass Lehrer UND Schüler stets glauben, in einem Bordell zu sein, gebrauchen sie auch Bezeichnungen für Damen, die in einem solchen arbeiten, in einem fort.

Das häufigste Schimpfwort ist nicht etwa: „Merde!“ („Scheiße!“), wie ich naiv geglaubt hatte, sondern „Putain!“ (was, wie ich gestehen muss, obwohl es mir die Schamesröte ins Gesicht treibt, soviel wie „Hure!“ heißt). Namentlich männliche Schüler verwenden ständig das P-Wort: wenn sie im Schulhof mit klar erkennbarer Schusstechnik Fußball spielen („Putain!“, „Putain!“), wenn sie sich lauthals beschweren („Putaaaaiiiiiin!!!“) oder wenn ihnen sonst irgendetwas zuwider ist.

Während Burschen zu ersterem Wort neigen, benützen Mädchen meist Varianten wie „Pute!“ (was dasselbe bedeutet), „Sale pute!“ (dasselbe mit „dreckig“), „Pu…naise!“ (im Deutschen soviel wie: „Schei…benkleister!“) oder „Salope!“ („Schlampe!“).

Falls jetzt aber jemand glauben sollte, ich hätte mich in zwei heruntergekommenen Vorstadtschulen aufgehalten, sei hier darauf hingewiesen: Weit gefehlt! Das Lycée in Nancy war sogar eine Art Eliteschule.

Franzosen wähnen sich eben sehr gern im Bordell; und auch ich sehne mich allmählich im coronabedingten Home Office nach dem Bordell an unserer Schule zurück. Man sagt das nur nicht so hierzulande. Die Franzosen aber haben so Unrecht nicht.

© SonjaUrbanek 2020-04-25

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