von Aron O
Als Gustav die Tür zum Dampfbad aufstieß, erwartete ihn eine unangenehme Überraschung. Ein anderer Hotelgast war bereits hier. Während seinem Kuraufenthalt hatte er sich eigentlich daran gewöhnt, den Saunabereich zu dieser späten Stunde mehr oder weniger für sich allein zu haben.
„Wollen Sie nicht reinkommen? Dampf und Hitze entweichen, wenn die Tür zu lange offensteht“, sagte der Fremde.
Jetzt erst bemerkte Gustav, dass er beim Anblick des Mannes wie angewurzelt stehengeblieben war. Er nickte fahrig und schob sich in den schummrigen, rot gefliesten Raum.
Nachdem er sich auf der glatten Sitzbank niedergelassen hatte, musterte Gustav den Anderen unauffällig aus dem Augenwinkel. Der Mann war ungemein groß und breit. Sein fülliger Bauch ruhte wie ein schlafendes Walross auf den Oberschenkeln. Genau wie seine Brust und sein Kopf war er vollkommen haarlos.
Das war jedoch noch nicht alles: Die Haut des Hünen war nicht nur mit glänzenden Schweißperlen, sondern auch mit zahllosen Tattoos bedeckt. Gustav erkannte unter anderem mehrere Anker, eine Meerjungfrau und mindestens drei verschnörkelte Schriftzüge.
Es erschien Gustav seltsam, dass er den Mann bisher noch nie gesehen hatte. In dem kleinen Kurhotel, das vor allem von biederen Bürohengsten mit schütterem Haar frequentiert wurde, hätte der Kerl doch auffallen müssen. Das kleine Dampfbad kam Gustav mit einem Mal ziemlich eng vor.
„Als sich die Tür öffnete, fragte ich mich schon, wer so spät noch hier hereinkommt. Ich bin froh, dass Sie es waren und nicht dieser Sack De Cuvier“, sagte der Riese plötzlich. Seine Stimme war so tief, dass Gustav fürchtete, die Bank unter ihm würde gleich anfangen zu vibrieren.
Gustav schnaubte verächtlich. Er konnte den schnöseligen Ex-Reeder, dem die Frauen im Kurhotel wie Groupies überallhin folgten, nicht ausstehen.
„Der schwimmt jeden Abend um sechs ein paar Runden und wirft sich danach fürs Abendessen in seinen lächerlichen Smoking. Aber inzwischen ist er sicher schon im Bett“, antwortete er.
„Im Bett, hm? Um die Zeit schon?“, brummte der Riese. Gustav fiel es schwer, dessen breiten Dialekt zu definieren. Plattdeutsch vielleicht?
„Klar, er ist doch ganz schön alt. Mitte siebzig mindestens.“
„Zweiundachtzig, soweit ich weiß.“
Gustav hob beeindruckt die Brauen. De Cuvier war ihm fürchterlich unsympathisch, aber das Schwimmen lohnte sich wohl. Vielleicht sollte er auch damit anfangen. Besser spät als nie.
„Er wohnt im Zimmer neben Ihnen, nicht wahr? Zimmer 38“, meinte der Fremde.
Gustav nickte vorsichtig. Woher wusste er das?
„Welch edle Nachbarschaft“, grinste der Hüne. „Ich bin sicher, Sie fühlen sich geehrt. Wäre der Mann noch ein paar Jahre jünger, dann hätten Sie in ihrem Zimmer nachts keine ruhige Minute. Die Wände sind hier ja recht dünn.“
Ehe Gustav antworten konnte, hievte sein Gesprächspartner seinen massigen Körper von der Sitzbank hoch.
„Hat mich gefreut, mein Freund“, meinte der Hüne und war schon verschwunden.
© Aron O 2021-09-05