von Heinrich Lechner
Noch ist der Grat breit. Die Kletterschwierigkeiten sind mäßig, wir kommen gut voran. Mein Blick schweift nach oben auf den immer schmaler werdenden Felsgrat. Beidseits geht es fast senkrecht bis zu 300 Meter in die Tiefe. Wie wird dies Andi, meinen Begleiter beschäftigen, wie sein Klettern beeinflussen?
Der erste Steilaufschwung. Im Vorausklettern versuche ich mich bei jeder Stelle in Andis Lage zu versetzen. Ich nütze jede Sicherungsmöglichkeit, um den Weg möglichst gut abzusichern. Stand, nachkommen! Ich kann Andi von hier aus nicht sehen, nur beobachten, wie sich das Seil langsam aber gleichmäßig einholen lässt. Ein gutes Zeichen, er kommt gut voran. Jedes längere Stocken sorgt für Spannung. Ich kann nur vermuten, an welcher Passage sich Andi gerade befindet, kurz Zeit braucht, um die richtigen Tritte und Griffe zu finden.
Endlich, hinter einer Felszacke taucht sein roter Kletterhelm auf. Wir haben Blickkontakt, er lächelt, ein gutes Zeichen. Trotzdem erkenne ich an seinen Bewegungen und dem Gesichtsausdruck seine innere Anspannung. „Schau einfach nach oben, auf den nächsten Griff“, versuche ich ihn zu beruhigen. Immer wieder jedoch bleibt er kurz stehen und blickt nach unten, „ich muss mich mit der Tiefe auseinandersetzen, auch wenn es schwierig ist“, antwortet er.
Ich bin geneigt, ihm wiederholt den Tipp zu geben, doch konsequent nach oben zu blicken, die Tiefe zu ignorieren. Der falsche Weg, wie ich Gott sei Dank erkenne und still bin. Ebenso zögerlich wie mutig blickt er von jedem sicheren Stand aus langsam und ganz bewusst in die saugende Tiefe. „Mir wird leicht schwindelig, aber es geht schon“, ruft er mir zu. Auch ich versuche meine innere Anspannung weg zu atmen. Die Sorge darüber, ob die bedrohliche Ausgesetztheit sein Klettern plötzlich lähmt, oder ob er sich daran gewöhnen, sich anpassen kann. Immer wieder meine ich ihm Tipps geben zu müssen, „nimm diesen Griff, steig‘ weiter links, paß auf!“ Aber das würde ihn nur zusätzlich stressen. Ich muss Geduld haben, ihm vertrauen, dass er in seinem individuellen Tempo und Rhythmus langsam aber sicher seinen guten Weg nach oben findet. Ratschläge wie ich selbst es besser machen würde, ein antreibendes „komm, mach schon“, würden gerade das Gegenteil bewirken und ihn aus dieser Zone der Herausforderung geradewegs in die Überforderung bringen.
Ich konzentriere mich darauf, ihn nach jeder Kletterpassage zu bestätigen, ihm die nötige Zeit zu geben, auch wenn ich die zunehmende Gewitterbewölkung im Auge habe. Mein Ziel muss sein, den langsamen aber gleichmäßigen Kletterfluss aufrecht zu erhalten, eben nicht zur Eile zu „mahnen“ und so ins Stocken, zum Stillstand zu geraten. Viel größer wäre am Ende unser Zeitverlust.
Eine letzte, waagerechte Gratpassage noch, wir klettern wieder an der Wand, in einer Rinne, das gibt Geborgenheit. Aufatmen, noch eine Seillänge und wir erreichen den Gipfel. Geschafft, herausfordernd, sicher und im eigenen Rhythmus!
© Heinrich Lechner 2020-07-01