Im geordneten Chaos

Louis Eikemper

von Louis Eikemper

Story
Amorem

Systeme, deren Bestandteile im Takt gleichmäßig zueinander ablaufen, bezeichnet man als synchron. Man beschreibt damit die Wechselbeziehung von Dingen, die sonst unabhängig voneinander existieren könnten. Der Musiker nennt es Rhythmus. Der Maler nennt es Komposition. Ein Physiker wiederum Simultanität. Und das Leben tauft es liebevoll, wenn auch von paradoxer Anmut: geordnetes Chaos.

Es war etwa viertel vor 12 gewesen an diesem Montag, unmittelbar vor der Mitternacht zum Dienstag, als Nymela hundemüde die Einfahrt ihres Elternhauses erreichte. Eigentlich war sie erst zum kommenden Vormittag mit ihnen zum Brunch verabredet gewesen und nach zwei Dritteln der Autofahrt hatte sie es schon ein wenig bereut Arthurs Angebot abgelehnt zu haben, bei ihm zu übernachten. Doch nach diesem ereignisreichen Tag schwebte ihr nur noch das prächtige, weiche Polsterbett durch die Sinne, in dem sie ihre halbe Jugend geschlafen hatte; samt der flauschigen Kaschmir-Bettwäsche, den Wolkenkissen und allem, was dazu gehörte. Als sie die Einfahrt passierte, begrüßte sie das alt vertraute, weiß-goldene Schild mit der Aufschrift »Wer die Liebe lebt, der wird vom Leben geliebt« über einen sanften Strom der Wärme. Zu ihrer linken und rechten erstreckten sich Amorems Weinberge, 33 Morgen Weinreben auf beiden Seiten. Die Natur hatte die Hänge mit einer weitreichend gedeihenden, blühenden Fauna und Flora gezeichnet und bildete für das reizende, Corall farbene Eigenheim ihrer Eltern ein schier malerisch anmutendes Panorama. Mit seiner in einem einladenden Vermillion getränkten Eingangstür und den markanten, von Teakholz geprägten Fensterläden sowie den auf den Fenstersimsen über liebevoll verzierte, Terrakotta-farbene Blumentöpfe eingepflanzten Gerbera erfüllte das Haus all seine Betrachter mit einer in dieser Art und Weise meilenweit einzigartigen, barmherzigen Eingebung.

Nymela stellte den Motor ihres Wagens ab und blickte aufmerksam aus dem Autofenster, um zu prüfen, ob ihre Eltern noch wach waren, zu solch spät fortgeschrittener Stunde. Einzig aus dem Schlafzimmerfenster schien noch Licht. Wahrscheinlich war es bloß ihre Mutter gewesen, die noch auf war; schmökernd im Bett, oder im Halbschlaf vor dem TV, berieselt dösend. Gutgläubig, dass sie beim Hereinschleichen nicht ertappt werden würde, stieg Nymela aus dem Auto und lief zur Eingangspforte, wo sie sich den Ersatzschlüssel nahm, den ihre Eltern für alle Fälle unter der Fußmatte versteckt hatten. Die Haustür knarzte beim Öffnen, da ihre Scharniere schon seit Ewigkeiten nicht mehr geölt worden waren; wenn sie jemand also erwischen würde, dann jetzt. Vorsichtig schloss Nymela die Tür auf und zu ihrer Erleichterung blieb es im Haus zunächst still. Im Eingangsbereich wurde sie von den vertrauten Duftkomponenten begrüßt, in die sich das Heim ihrer Eltern, seit dem sie denken konnte, gehüllt fand. Zunächst eine Mischung, deren Wesen hauptsächlich von Noten aus Bergamotte und Lilie geprägt war – irgendetwas, dass sich aus der Vielfalt an selbst zusammengestellten Putzmitteln ergab, die ihre Mutter so gerne kreierte. Ging man vom Flur aus weiter in das Wohnzimmer, so wurde man von der herrlichen Wonne begrüßt, die sich aus dem weitläufig angelegten Garten des Grundstücks vernehmen ließ. Besonders markant waren die hier vorherrschenden Noten vom Ziersalbei, der Clematis, den vielen Duftnesseln, dem Sand-Thymian und den herrlichen Bartblumen. Sie vermischten sich mit dem Temperament der Waldmeistergewächse, den strahlend schönen Hortensien und Silberkerzen, sowie dem Storchschnabel und dem verlockenden Duft vom Phlox; all diese Einzigartigkeiten vermengten sich mit den herrlichen Akzenten, welche die prächtigen Lavendel und Fliedersträucher zu setzen wussten und filterten schlussendlich über die Nuancen der vor den Wohnzimmerfenstern eingepflanzten Katzenminze-Gewächsen zu dem Wunder der Vielfalt, dessen Harmonien nur die Gesetze der Natur imstande waren hervorzubringen. Sie vermied es das Licht anzuknipsen, als sie weiter in die Küche lief. Mit den zarten Fingern fuhr Nymela zuerst langsam und gediegen über die Arbeitsfläche, deren Marmor aus Crema Marfil beschaffen war und dann weiter zu der langen Essenstafel, die man einst aus Wildeiche geschreinert hatte. Das durch die Fenster einfallende Mondlicht ließ sie erkennen, dass noch Geschirr vom Abendessen auf dem Tisch stand – Porzellanteller, zwei Gläser und eine bis auf den letzten Schluck geleerte Flasche Nectar Dei. Gerade beschloss Nymela sich nützlich zu machen und das Gedeck zum Abwasch einzusammeln, als die Dunkelheit durch einen eingehenden Anruf auf ihrem Mobiltelefon zerrissen wurde. 

„Looking out
Across the nighttime
The city winks a sleepless eye
Hear her voice
Shake my window
Sweet seducing sighs

Get me out
Into the nighttime
Four walls won’t hold me tonight
If this town
Is just an apple
Then let me take a bite

If they say
Why (why?), why (why?)
Tell ‚em that it’s human nature
Why (why?), why (why?)
Does he do me that way?“, 

ertönte die zeitlos schöne Stimme von Michael Jackson, welche mit dem Song „Human Nature“ ihren Klingelton zu ehren wusste. Nymela eilte zurück zum Eingang, wo sie das Telefon in der Handtasche verstaut hatte. Wie immer, wenn ihr Handy zu einem unpassenden Zeitpunkt bimmelte, schien es für sie in dem unsortierten Gemenge ihres Gepäcks schier unauffindbar zu sein. Gedanklich entsendete sie mehrere Flüche, für die ihre Eltern sie zu Kindesaltertagen wohl sprichwörtlich die Zunge hätten waschen lassen. So vergingen geschlagene anderthalb Minuten, die sie in der Dunkelheit brauchte, um ihr Telefon hervorzukramen, im Gefühl von ein paar Stunden. Als sie es im endlos erscheinenden Gewusel ihrer Handtasche schließlich fasste und die grüne Hörertaste zur Gesprächsannahme drückte, war der Anruf am anderen Ende der Leitung gerade beendet worden. Es war Arthur gewesen. Unmittelbar nach dem Versuch sie zu erreichen, hatte er auch schon eine SMS gesendet. 

„Bist du heile bei deinen Eltern angekommen? Du hattest doch versprochen dich zu melden. Ich mache mir solche Sorgen. Bitte gib mir ein Zeichen“, lautete die Nachricht. 

Nymela wusste um die Sanftmütigkeit, die von Arthurs romantischen Avancen ausging; und doch nervte es sie, dass er durch eine solch rosarote Brille auf ihr Verhältnis zu blicken pflegte. Es nervte sie auf eine Weise, die sich wohl irgendwo zwischen dem Leidensdruck, der von ihrem durch hormonelle Verhütungsmittel bedingten Östrogenmangel sowie dem Gesetz von push and pull begründen ließ und nicht zuletzt der Natur des Tinder-Zeitalters in Rechnung zu stellen war. Wie so viele Menschen stieß es sie ab, wenn man bereits in der Kennenlernphase romantische Gefühle zeigte. Wo lag dann noch der Reiz des Eroberns? Welche heißblütige Löwin mochte es schon, wenn sich ihr die Beute wie ein Aas ergeben präsentierte? Nymela wollte sich die Aufmerksamkeit eines Liebhabers wie eine Walküre erkämpfen, sie erringen. Scheinbar hatte Arthur ihr Prinzip noch nicht ganz verstanden! Für einen kurzen Moment folgte sie der fiebrigen Hitze, die den Geist ihres Gedankenflusses immer stärker temperierte. Sie brachte ihn zum Brodeln und Kochen, verwandelte ihn zu Dampf und benebelte ihre Gefühle; stieg in ihrem Verstand so weit auf, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Beinahe hätte sie sich zu der Kurzschlussreaktion verleiten lassen den Kontakt zu Arthur auf die denkbar verletzendste Art und Weise zu ghosten – als sie vernahm, dass die kräftigen Schritte ihres Vaters die Wendeltreppe herunterkamen. Der Lichtscheinwurf seiner Mag-Lite Taschenlampe leuchtete prüfend in das Wohnzimmer und darauffolgend in die Küche, ehe er schließlich raunzte: „Wer ist da? Ich bin bewaffnet! Versuchen Sie gar nicht erst irgendein Spielchen mit mir zu treiben. Gott ist und bleibt auf meiner Seite! Ihnen zu zeigen, warum ich beim Fest des Theseus zum vierten Mal in Folge zu Amorems König der Schützen gekrönt wurde, würde mir kein schlechtes Gewissen bereiten. Glauben Sie gerne, dass es mir sogar eine Ehre wäre!“

Wenngleich Nymela sich dem Ernst der Lage bewusst war, fand sie den einem Hütehund gleichenden Beschützerinstinkt, der von ihrem Vater ausging, in gewisser Weise niedlich und jene fast filmreife Übertreibung, die sich seiner ins Detail verliebten Wortwahl ergab, sogar amüsant. Entsprechend konnte sie einen Kicherlaut nicht verkneifen. „Alles gut, Papa. Ich bin’s bloß“, zwitscherte Nymela über ein der Situationskomik geschuldetes Paradoxon von beruhigender Heiterkeit. Ihr Vater atmete erleichtert auf und schaltete das Licht an. „Nymela? Oh liebes, hast Du mir einen Schrecken versetzt! Hieß es nicht, dass du erst morgen zu Besuch kämst? Mach doch beim nächsten Mal bitte wenigstens das Licht an, wenn du hereinkommst – und gib bestenfalls sogar vorher ein Zeichen von Dir“, keuchte er. „Ja, Paps. Bloß konnte ich mein Bett hier kaum erwarten. Und um ehrlich zu sein, geht mir das mit diesem Arthur, von dem ich euch neulich erzählt hatte, mittlerweile auch alles etwas zu schnell. Deshalb habe ich entschieden, nicht wie geplant bei ihm zu schlafen und bin heute Nacht direkt hier hergefahren. Du darfst deine Wumme übrigens gerne beiseitelegen. Ich bin kein Einbrecher, wie du siehst.“ Er nickte, grinste verschmitzt und legte das Luftgewehr auf die Kommode unmittelbar zu seiner linken. „Na dann. Schön, dass du da bist mein Schatz. Entschuldige bitte die Aufregung. Vom Abendessen ist leider nichts mehr übrig geblieben, doch im Kühlschrank befinden sich noch ein paar von Mamas berühmten Blaubeer-Bananenmuffins, insofern du Hunger haben solltest. Zwar von vorgestern, jedoch auch heute noch lecker!“ Nymela war erfreut, doch gab sich bescheiden, als sie in die Küche lief und das Geschirr spülen fortsetzte. „Klingt echt gut! Doch die will ich mir zuerst verdienen, Paps. Ich war gerade beim Abwasch.“ Ihr Vater beobachtete sie eine Weile mit allem Stolz, der seinen Augen möglich war zu erkennen, ehe er sprach: „Das hast du von deiner Mutter, mein Engel.“ Nymela schaute zur Seite und stutzte. „Was meinst du, Papa? Was habe ich von Mama?“ 

„Die Dankbarkeit sich selbst die kleinen Freuden der Welt zu verdienen. Und der Instinkt, dass du einen Ort, den du betrittst, zu einem besseren machen willst. Besser als du ihn vorgefunden hast. Deine Mutter ist genauso wie Du, was das angeht. Wenn sie vom Lauf des Lebens etwas zugeteilt bekommt, dann will sie zuerst für sich begründen können, dass sie es sich auch wirklich verdient hat. In etwa so wie du jetzt. Du spülst zuerst unser Geschirr von gestern Abend, bevor du dir Blaubeer-Bananenmuffins gönnst. Dabei wäre das nicht einmal nötig gewesen, mein Engel.“ Für einen Moment hielt ihr Vater inne und ließ seine Worte wirken. Nymela war es immer etwas unangenehm, wenn sie für Dinge wie diese, die sie eigentlich selbstverständlich erachtete, derartig gelobt wurde. Ihr Vater fuhr fort. „Du hattest von dem jungen Mann erzählt, den du gerade kennenlernst und bei dem du heute doch nicht übernachten wolltest. Wie war sein Name noch gleich?“ Nymela schaute erneut auf. „Arthur heißt er, Paps.“

„Du sagtest, dass dir mit ihm alles zu schnell ging, richtig? Ist das nicht im Prinzip genau dieselbe Sache, wie mit den Muffins und dem Abwasch, mein Engel? Vielleicht geht dir die Romanze mit ihm einfach zu schnell, da du dir die Aufmerksamkeit und all seine Zuwendungen erst noch verdienen möchtest.“ Nymela sagte einen Moment nichts, dachte über die Worte ihres Vaters nach und spülte dabei das letzte Geschirr sauber, ehe sie den Wasserhahn abdrehte, sich zu ihm wandte, lächelte und antwortete: „Kann schon gut sein, Paps. Wenn du mich fragst, dann ist das allerdings auch selbstverständlich. Liegt es nicht im Gesetz der Natur, dass die guten Zeiten nicht vom Himmel herab fallen, sondern von uns erst erschaffen werden müssen? Ich zumindest habe bisher noch niemanden getroffen, der wirklich glücklich aus sich heraus geschienen hat, wenn er im Leben alles geschenkt bekommen hat.“ Nymelas Vater legte die Stirn in Falten, räusperte sich und entgegnete: „Genau das meine ich. Du beeindruckst mich mit genau diesen Tugenden, die aus dir heraus sprechen, immer wieder aufs neue – genau wie deine Mutter es tut. Nichts im Leben ist wirklich selbstverständlich. Schon gar nicht deine Dankbarkeit. Die meisten Menschen nehmen lieber vom Lauf des Lebens, anstatt ihm etwas hinzugeben. Du machst das hingegen von Natur aus. Ich bin unglaublich stolz auf dich, mein Engel. Du bist ein Geschenk für die Welt. Jemand, der dem Chaos des Lebens mit einer eigenen Ordnung begegnet. Wenn dieser Arthur dir begegnet ist, deine Nähe sucht und dich in deinem Wesen zu erkennen und wertzuschätzen weiß, dann muss er ein guter Mann sein. Ich würde mich freuen einen lieben Mann an deiner Seite zu sehen.“ Nymelas Wangen färbten sich rosa fromm. „Danke, Papa! Du machst mich ja ganz verlegen.“ Sie zögerte einen Moment lang, trocknete das Geschirr ab und sortierte es ein. Schließlich öffnete sie den Kühlschrank und entnahm die Schale mit den Blaubeer-Bananenmuffins. Nach einem leidenschaftlichen Bissen beschloss sie die Unterhaltung aufzulösen und antwortete: „Das kann schon gut sein, dass er ein guter Mann ist, Paps. Doch was, wenn all seine voreiligen Avancen daher rühren, dass er in mir einen Weg sieht Ordnung in sein eigenes Chaos zu bringen? Was, wenn er sich selbst einfach nicht genug liebt und nicht imstande ist eine eigene Ordnung in seinem Leben zu begründen?“ Nymela umarmte ihren Vater. „Ich will ihn erst einmal besser kennenlernen. Den Status eines guten Mannes muss er sich erst einmal verdienen. Bevor ich ihn dir vorstelle, muss er schon etwas ganz Besonderes für mich geworden sein. Ich gehe jetzt schlafen, Paps. Bin total müde. Einen Muffin würde ich mir noch mit aufs Zimmer nehmen, wenn das in Ordnung ist?“ Er nickte, grinste und sprach schließlich: „Schlaf gut, mein Schatz. Und ja, das ist absolut in Ordnung!“

Nymela verabschiedete sich, lief die Wendeltreppen rauf und in ihr Zimmer. Endlich in ihrem Bett angelangt, genoss sie die letzten Happen ihres Blaubeer-Bananenmuffins und entschloss sich Arthur zu antworten.

„Hey, du. Ja, ich bin gut angekommen. Liege im Bett und musste gerade an dich denken, als ich mein Betthupferl (einen Bananenmuffin) vernascht habe. Schlaf gut! XOXO“

Und so drehte sich Nymela noch eine Weile im Gedankenkarrussel, ehe sie zwischen den Wolkenkissen ihres geliebten Polsterbettes einschlief, in den ersten Stunden dieses Dienstagmorgens.

© Louis Eikemper 2025-02-25

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Romane & Erzählungen
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