von Klaus Schedler
Gronau 1959. Mein Schulweg war etwa 1 ½ Kilometer lang. Als 6-jähriger brauchte ich dafür zu Fuß etwa 20 Minuten. Meist ging ich allein, denn daheim, im Kern des Industrie- und Bahnhofsbereichs der Stadt, wohnten nur wenige Familien. Ich hatte damals noch keine Uhr, doch wusste ich, dass ich beim Vorläuten der katholischen Kirche das Haus verlassen musste, wollte ich 5 Minuten vor Unterrichtsbeginn am Ziel sein.
Einmal jedoch hatte ich mich tüchtig verfranst. Ich hatte noch nicht einmal den halben Schulweg geschafft, als schon die Glocken mit dem Hauptläuten einsetzten: Keine 5 Minuten mehr! Ich rannte also los, als plötzlich neben mir ein Messerschmitt-Kabinenroller (Menschen in Aspik) stehenblieb. Der Fahrer klappte das Dach auf, stieg aus, schnappte mich und wuchtete mich wortlos auf die Rückbank. Und schon düsten wir los. Toll! Ich war begeistert. Ein Kabinenroller! Wie ein Pilot in einem Kampfflieger saß der Fahrer vor mir, und nun flitzen wir auf der Zollstraße mitten zwischen dem riesigen Güterbahnhof und den Schrebergärten dahin. Im Nu war die Schule erreicht.
Was war geschehen? Mein Schulweg führte mich an den zum Grenz-Güterbahnhof gehörenden Lagerhallen der Güter- und Zollabfertigung vorbei. Dort an der Rampe standen die LKWs und Anhänger. Als ich an diesem Morgen vorbei wollte, waren gerade 2 LKW-Züge dabei, ihre Anhänger passgerecht vor der Rampe in Stellung zu bringen und dafür brauchten sie die gesamte Straßenbreite. Als ich nun vorbei wollte, wurde ich von einem Arbeiter grob angeschnauzt: „Wech da, Jonge! Da kannsse jetz nich durch!“ Ich wartete also ebenso wie auch alle Autos auf der Zollstraße. Unter ihnen – was ich nicht wusste – war auch Rektor Becker, der Direktor der Luisenschule mit seinem Flitze-Roller. Als ich gerade lossprintete war er es, der mich einfach mitnahm.
Heute werden diese ersten Kleinstwagen der Nachkriegszeit belächelt und tatsächlich genossen Autos wie Goggo, Isetta, oder Lloyd aufgrund bescheidener Fahrleistungen ein geringes Ansehen. Schließlich gab es doch bereits richtig schicke Autos von Ford, Opel, Borgward und natürlich Mercedes.
Der Messerschmitt-Kabinenroller aber war für uns Kinder seit jeher etwas ganz Besonderes: Nicht nur wegen des Plexiglas-Daches, für das angeblich zunächst Restbestände von Flugzeugkanzeln verwendet worden waren, sondern auch wegen der legendären Geschwindigkeit und Beschleunigung. Untermotorisiert waren diese Fahrzeuge nämlich nicht, da sie ein nur geringes Eigengewicht aufwiesen und es hieß, dass sie, mit dem stärksten 2-Takter bestückt, sagenhafte 130 km/h erreichen sollten. Nicht schlecht, denn damals war das nur etwas weniger als die Spitzengeschwindigkeit eines Porsches.
Ich war mächtig stolz auf mein Erlebnis und konnte kaum erwarten, es beim Mittagessen zu erzählen. Meine beiden älteren Brüder glaubten mir jedoch nicht. Tja, darum hab ich die Geschichte bis heute für mich behalten – ABER WAHR IST SIE DOCH!
© Klaus Schedler 2019-09-02