von Helga M. Stadler
11. September 2001 – Das Telefon klingelt. Ich freue mich. Es ist der erste Anruf an meinem neuen Arbeitsplatz. Nach knapp 36 Monaten Karenzzeit werde ich beruflich neustarten. Endlich! Ein neuer Lebensabschnitt für mich und meine Babytochter beginnt.
Ich freue mich, es ist mein Namenstag, der traditioneller Weise in unserer Familie größer gefeiert wird als Geburtstage. Er ist seit frühester Kindheit einer meiner favorite Days im Jahr, mit dem ich nur schöne Erinnerungen verbinde.
Der Anrufer kann nur meine Freundin sein, keiner sonst kennt die Nummer. Wir sind am Abend verabredet, wollen ein bisschen feiern gehen. Als ich abhebe, sie ist so aufgeregt, dass sie kaum sprechen kann, erzählt sie von Flugzeugen in Wolkenkratzern und einem Flammen-Inferno in NYC. Ich höre, was sie sagt, verstehe aber nicht. Mich überkommt Todesangst, ich verlasse fluchtartig das Büro und renne im Laufschritt nach Hause. Daheim sitzt meine Mutter, fassungslos, mit meiner Tochter vor dem Fernsehgerät. Ich setze mich neben sie, nehme beide in den Arm. Drei Generationen sehen jene Bilder, die sich in das kollektive Gedächtnis von uns allen gebrannt haben. Die Bilder von fliehenden Aschen-Menschen und fallenden Körpern wie Puppen für ewig abgespeichert.
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August/September 2021 – Das Telefon klingelt. Ich freue mich. Meine Tochter ist seit Tagen in New York, beginnt ihr Uni-Auslandssemester in der Stadt, die niemals schläft. Via Facetime, hautnah und live, führt sie mich durch das gesamte Gelände des Ground Zero. Kaum Menschen, Pandemiebedingt, Maskenträger gehen ehrfürchtig durch das mehr als 6 Hektar große Areal der ehemaligen, völlig verstörten World Trade Centers. Was ich sehen kann, ist ein friedlicher, fast beschaulicher Ort, der zum Verweilen und Nachdenken einlädt. Ich frage sie, wie es sich anfühlt, direkt an der Stelle zu stehen, die für tausende Menschen zum Grab wurde. Sie spricht von einer gespenstischen, beklemmenden Stimmung trotz äußerer Schönheit der Anlage.
Bald schon wird sie zum eigentlichen Ziel ihres Auslandsaufenthaltes aufbrechen. Nach Nola, New Orleans in Louisiana, ihre Wahlheimat für die nächsten Monate. Fünf Tage Normalität als Studentin zwischen Campus- und Nachtleben sind ihr vergönnt. Am 28. August muss sie fluchtartig, wie Tausende andere Einheimische auch, mit einem Rucksack als einziges Gepäck, die Stadt vor Hurrikan Ida verlassen. Die unmittelbare Bedrohung überall spürbar. Ihre Freundesgruppe landet mitten in der Nacht im texanischen Nirgendwo. Eine Zufallsbekanntschaft in einer Bar, nimmt die acht jungen Leute spontan zu sich nachhause. Amerikanische Gastfreundschaft.
Nun warten sie darauf, dass sie in die schwer in Mitleidenschaft gezogene Stadt zurückkehren können. An Normalität nicht zu denken. Ob und was die Zurückkehrenden erwartet, völlig ungewiss.
Gebt dem Albtraum einen Namen …
Der Beigeschmack an meinem Ehrentag klebt für immer wie die Bilder in unseren Köpfen.
© Helga M. Stadler 2021-09-11