von Julia Rother
Ich schlenderte am Neuen Palais vorbei Richtung Chinesisches Teehaus.
Die Herbstsonne kitzelte meine Wangen und mir fiel auf, wie schwach ihre Strahlen innerhalb der letzten drei Wochen geworden waren, seit meinem Umzug nach Potsdam. Ich hatte mein Skizzenbuch unter den Arm geklemmt, wollte Zeichnen gehen, und ich wusste auch schon genau, wo.
Radfahrer kamen mir auf dem Asphalt entgegen und ich bog ab, ging die verschlungenen Kieswege entlang, die zwar unnötig Strecke machten, aber wesentlich ruhiger waren um diese Uhrzeit. Ich lief am „Flöten-Faun“ vorbei, meiner Lieblingsstatue im Park. Der Ziegenmensch erinnerte mich an einen Film aus meiner Kindheit und ich lächelte zu ihm auf, wie ich es immer tat, wenn ich seinen Sockel passierte.
Wie unwirklich das alles doch war …
Mein Weg führte vorbei an einer Sichtachse nach Schloss Charlottenhof, einem kleinen Teich, auf dem eine Schwanenfamilie schwamm und dem eingangs erwähnten Teehaus, dessen Dach die Sonne golden reflektierte. Obwohl ich mit einiger Unsicherheit bereits zu sagen vermochte, dass die Kreuzung beim Teehaus mein Lieblingsort im ganzen Park war, so zog es mich doch weiter, hin zu der großen Allee.
Je mehr ich mich meinem Ziel näherte, desto schummriger wurde das Licht, denn die schweren bunten Blätter der umstehenden alten Bäume verschlangen es fast gänzlich. Auch die Hecken links und rechts des Weges trugen ihren Teil bei zu der hier herrschenden, düsteren Atmosphäre. Endlich war ich im „Labyrinth“ angelangt, wie ich diesen Teil des Parks gern nannte. Es gab mehrere Lichtungen entlang des Hauptweges, von dem überall kleine Wege abzweigten, die wiederum von Hecken gesäumt wurden. An jeder zweiten Lichtung standen schneeweiße Mamorskulpturen im Kreis, sodass, wenn man sich mehrmals um sich selbst drehte, alles miteinander verschwamm, und der Orientierungssinn begann, Streiche zu spielen.
Ich dachte zurück an meinen ersten Spaziergang auf dieser Route und eine angenehme Gänsehaut breitete sich auf meinem Nacken aus: Der perfekte Platz, um einige magische Kreaturen zu skizzieren!
So ließ ich mich zwischen zwei fürstlichen Kunstschätzen auf eine weiße Parkbank fallen, mein Halstuch lag wie eine Decke unter mir, weil es schon so kalt war. Dann holte ich den Bleistift aus meinem Mäppchen. Ich liebte diesen Ort und die Atmosphäre hier. Und doch tat ich mich in letzter Zeit schwer, etwas Vernünftiges zu Papier zu bringen. Ich sah zu, wie aus den Kreisen und Linien auf dem Blatt ein kleiner Werwolf wurde – nicht perfekt, aber mit ein bisschen Arbeit konnte aus ihm eventuell noch eine ordentliche Halloween-Illustration werden.
Einmal mehr im Corona-Jahr 2020 fragte ich mich plötzlich, ob es sich gelohnt hatte, durchzuhalten und einfach immer weiterzumachen. Und schließlich, an jenem sonnigen Herbsttag, in der Mitte des „Irrgartens“ von Park Sanssouci beantwortete ich diese Frage zum ersten Mal mit „Ja“.
© Julia Rother 2021-03-29