Im Stammcafé von Franz Kafka

Jürgen Heimlich

von Jürgen Heimlich

Story

Im Frühsommer 2018 fuhren meine Lebensgefährtin und ich mit dem Zug nach Prag. Wir sollten dort einige wunderschöne Tage verbringen. Und ein Stück weit wollte ich auch direkt vor Ort mit meinem Lieblingsschriftsteller Franz Kafka in geistige Verbindung treten.

Schon am ersten Abend unseres Aufenthalts in der goldenen Stadt machten wir uns auf, um das Stammcafé von Franz Kafka, das Café Montmartre, ausfindig zu machen. Es befindet sich in der Řetězová 7 nur unweit von der berühmten Karlsbrücke. Wir waren überrascht, fast die einzigen Gäste zu sein. Ich hatte mich vorher darüber informiert, dass dieses seit 1911 bestehende Café bei zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen beliebt gewesen war. So saßen hier Jaroslav Hašek, Franz Kafka, Johannes Urzidil und Gustav Meyrink an einem Stammtisch. Auch Egon Erwin Kisch und später nach der Wiedereröffnung Václav Havel waren regelmäßig im Café Montmartre.

Heute machen Fotos an den Wänden auf die Geschichte des Cafés aufmerksam. Franz Kafka saß frühestens ab zehn Uhr Abends mit seinen Freunden im Montmartre, und ich kann mir vorstellen, dass er nicht viel sprach. Wenn er aber – wie viele Zeitzeugen berichteten – etwas sagte, dann war es fast immer etwas Besonderes. Kafka wollte keine Worte machen, er wollte etwas sagen. Das ist eine Parallele zu seinem literarischen Werk, das sich nicht an Nebensächlichkeiten festhalten will, sondern den Dingen auf den Grund zu gehen versucht. Wobei es letztlich Abgründe sind, in die der Leser mitgerißen wird. Abgründe, die aber keineswegs nur schrecklich oder tragisch sind; ebenso sind sie kurios und komisch. Die Schriftsteller-Freunde werden im Café viele gemeinsame Stunden verbracht haben. Schließlich war es die ganze Nacht bis zehn Uhr vormittags geöffnet.

Die Kellnerin, die ich auf die Vergangenheit und die Fotos ansprach, konnte nicht alle abgelichteten Persönlichkeiten zuordnen. Das Café hat wohl nicht mehr viel mit Künstlerinnen und Künstlern am Hut. Vielmehr ist es Anlaufstelle für Studenten. Im größeren Raum, wo meine Lebensgefährtin und ich Platz nahmen, und einen Toast aßen, waren auch keine Studenten. Im zweiten Raum befindet sich eine Bar, und das Ambiente ist deutlich heller. Wenn ich an Kafka denke, so glaube ich eher, dass er dort gesessen sein muss, wo wir an diesem Abend saßen. Da haben sogar mehrere Stammtische Platz.

Dieses Café atmet Geschichte, und ob es viele Pragerinnen und Prager gibt, die darüber Bescheid wissen, ist die große Frage.

Nach dem Besuch des Montmartre gönnten wir uns Trdelník. Eine traditionelle Süßspeise, die eine Art Baumkuchen ist, und mit oder ohne Füllung angeboten wird. Während wir auf einer Bank sitzend das Trdelnik genossen, beobachteten wir, wie um zehn Uhr Abends Touristengruppen der Karlsbrücke zuströmten. Eine nach der Anderen. Prag ist leider auch in der Gegenwart angekommen, und wer tagsüber ins „Goldene Gässchen“ will, muss dafür kräftig in die Tasche greifen.

© Jürgen Heimlich 2021-01-19

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