Im Stiegenhaus

Giggu

von Giggu

Story

In einem altehrwürdigen Zinshaus wohnen unter anderem zwei Damen, die einander schon seit Ewigkeiten kennen, aber auch schon seit Ewigkeiten nicht leiden können. Leider wohnen sie Tür an Tür im dritten Stock und können sich schlecht aus dem Weg gehen. Die Animositäten begannen damals, als im 4. Stock ein junger Klavierlehrer einzog, der sehr höflich zu den alleinstehenden Damen war. Frau Fürstmann nahm die Gelegenheit gleich beim Schopf, ihr Klavierspiel aufzufrischen und nebenbei den jungen Mann anzuhimmeln. Frau Windisch beklagte heimlich, dass sie keine Noten lesen kann. Aber als begnadete Mehlspeisenbäckerin versuchte sie, den Herrn Klavierlehrer mittels Süßspeisen zu erobern.

Frau Windisch: „Heute haben Sie wieder ordentlich daneben gehaut beim Klavierspielen. Ich höre das ja bis ins letzte Winkerl meiner Wohnung! Da muss ich mir immer die Ohren zuhalten, sonst zieht es mir die Schuhe aus.“ Frau Fürstmann: „Tja, so eine Etüde klappt nicht auf Anhieb, aber Sie verstehen zu wenig davon, Frau Nachbarin, ich höre ja Ihr Radio plärren. Nur umtata, umtata – einfach niveaulos!“ Frau W.: „Also wirklich! Es gibt nichts Schöneres als eine erfrischende Volksmusik. Das bringt Sonne ins Herz, darum schau´ ich auch nicht so verbissen drein wie Sie!“ Frau F. steigt soeben ein Geruch in die Nase:„Sagen Sie, riecht es da nicht angebrannt?“ Frau W.: „Um Gottes Willen, mein Kuchen!“

In der Zwischenzeit sind viele Jahre vergangen, der Klavierlehrer ist ausgezogen. Keine der Damen hat in besonderem Maße seine Gunst erwerben können. Die Nachbarinnen sind gemeinsam getrennt alt geworden. Körperliche Beschwerden haben sich eingestellt. Frau Fürstmann hat das Klavierspiel aufgegeben. Die Noten auf den Notenblättern verschwimmen, trotz starker Brille. Frau Windisch hört auch mit ihrem Hörgerät fast nichts mehr. Und das Gehen fällt beiden Damen schon schwer. Zum Glück ist nun ein Aufzug in diesem alten Zinshaus eingebaut worden. Soeben hält der Aufzug im 3. Stock und Frau Fürstmann steigt, ein Einkaufsnetz tragend, aus. Das beobachtet Frau Windisch, die auf einem Stuhl am Gang vor ihrer Türe sitzt. Frau F. fühlt sich unbeobachtet, schlurft ächzend zu ihrer Wohnungstüre und versucht verzweifelt, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, was ihr nicht gelingt. Sie erschrickt, als sie die Stimme ihrer Nachbarin unmittelbar hinter sich hört. „Na, Frau Fürstmann, finden Sie vielleicht nicht ins Schlüsselloch?“ „Haben Sie mich jetzt erschreckt, Frau Windisch, was machen denn Sie da am Gang? Leute erschrecken?“ „Nein, ehrlich gesagt, das Stiegenhaus ist mein Fernseher. Da ist ab und zu etwas los und ich kann mit Vorbeikommenden plaudern.“ „Und warum haben Sie kein TV-Gerät?“ „Habe ich ja, aber ich müsste so laut aufdrehen, dass die Wände wackeln, das will ich Ihnen nicht antun“. „Sehr rücksichtsvoll von Ihnen, danke! Ich kann auch nicht mehr fernsehen, meine Augen sind so trüb.“ Beide seufzen.„Soll ich Ihnen jetzt ihre Wohnung aufsperren, wenn ich schon da bin?“„Danke, das wäre nett. Ach, kommen Sie doch gleich mit herein auf einen Kaffee!“ „Lieb von Ihnen, ich hole uns schnell meinen Apfelstrudel dazu!“ „Ich bin übrigens die Karoline!“, ruft Frau F. ihrer Nachbarin lauthals nach. „Ich bin die Waltraut!“, ruft Frau W. zurück. Dann kichern beide und fühlen sich recht glücklich.

© Giggu 2024-02-19

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Komisch, Hoffnungsvoll
Hashtags