Im Wintergarten

Beda

von Beda

Story

Über Nacht hat es geschneit. Als die junge Heckenbraunelle in ihrem Schlafplatz aufwacht, hat sich ihre Welt komplett verändert. Sie plustert ihr unscheinbar braunes Gefieder auf. Die Temperatur ist unter den Gefrierpunkt gesunken. Schon bald wird der Hunger das Tier aus seinem Versteck, in der alten toten Hecke, treiben. Doch noch ist es ängstlich, wegen dieser nächtlichen Verwandlung. Es ist ihr erster Winter. Die Wiese ist mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Die Zaunpfosten tragen hohe Schneehauben und die niedrigen Büsche sehen wie Schneehügel aus. Für die Heckenbraunelle ist es eine neue, beängstigende Welt.

Still ist es in der Morgendämmerung. Die Nachtvögel haben sich bereits zurückgezogen und die Tagesvögel verharren noch in ihren Schlafplätzen. Mitten in dem Garten steht ein großes Futterhäuschen. Auch dessen Dach verbirgt sich unter glitzerndem Schnee. In dem alten Haus, zu dem der eingewachsene Garten gehört, sind noch alle Fenster dunkel.

Hoch an Himmel ertönt ein erstes Rabenkrächzen. Die Räuber der Lüfte brechen zur Jagd auf. Auch die Heckenbraunelle wird unruhig. Die Neugier siegt. Sie hüpft auf den nächsten dicken Ast der Hecke und pickt neugierig in die weiße Masse, die alles bedeckt. Enttäuscht fährt ihr Schnabel ins scheinbar Leere. Kein Futter.

Auf dem Boden der Hecke, unter einem Haufen Laub, schläft der Igel. Längst hat sich die Heckenbraunelle an ihren stachlige Nachbar, der bis vor kurzem noch nachts schnüffelnd durch den Garten zog, gewöhnt.

Der Sonnenaufgang vertreibt die Dunkelheit und taucht das Firmament in ein brennendes Szenario, dass jedoch keine Wärme spendet.

Ein Blaumeisenpaar fliegt über den Garten und landet laut zirpend auf der Spitze des alten Apfelbaums. Bald darauf ist der Ruf einer Amsel zu hören. Erstaunt schaut ihr die Heckenbraunelle aus ihrem Versteck zu, wie sie furchtlos über den Schnee läuft und dabei ihre zarten Spuren hinterlässt. Die Amsel flattert in das Futterhäuschen und äußert sich empört, dass dieses leer ist. Mit wütendem Gezeter fliegt sie davon.

Als noch eine Horde Spatzen weiter unten im Apfelbaum landet, ist das Vogelkonzert so laut, dass in dem Haus ein Licht angeht. Die Meisen wissen mittlerweile, was als nächstes passiert. Langsam öffnet sich die Holztür und schiebt den Schnee dabei zu einer kleinen Wand. Aus ihr tritt eine alte, gebeugte Frau. Auf einem Tablett balanciert sie zwei Schalen, eine mit Vogelfutter und eine mit warmen Wasser. Oft hat sie noch einen Apfel oder eine Scheibe Speck dabei. Diese Leckereien verteilt sie auf Häuschen und Bäume. Der Tisch ist für die Vögel gedeckt. Die Gäste lassen nicht lange auf sich warten, nur leider haben sie keine Manieren. Um jeden Bissen wird gestritten. Nachdem die ersten Vögel den Futterplatz wieder verlassen haben, lockt der Hunger auch die vorsichtige Heckenbraunelle aus ihrem Versteck. So gestärkt, breitet sie ihre Flügel aus und fliegt der fahlen Wintersonne entgegen.

© Beda 2022-12-10

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