Ich sitze im Zug. Der Zug fährt durch die Nacht. In der Ferne ein Lichtermeer. Fast alleine bin ich im Waggon. Ich und mein lilafarbener Koffer, der mich schon vor vielen Jahren auf meiner Reise nach England begleitet hat. Irgendwo hinter mir hustet jemand. Der Zug hält. Menschen steigen ein. Ein Mann nimmt in meiner Nähe Platz. Ich nehme den Geruch von Tabak wahr. Möglicherweise ist er ein Pfeifenraucher. Mein Vater hat Pfeifen geraucht. Schon lange lebt er nicht mehr. Aber dieser Tabakgeruch schlägt eine Erinnerungsbrücke zu ihm.
Ich blicke aus dem Fenster. Ich sehe Lichtpunkte in der Ferne. Die Menschen in den Häusern essen jetzt zu Abend, sehen fern, spielen mit ihren Kindern, sofern sie welche im entsprechenden Alter haben. Manche arbeiten noch, über die tägliche Arbeitszeit hinaus. Das habe ich auch gemacht, als ich noch berufstätig war. Stunden nach meiner eigentlichen Unterrichtstätigkeit saß ich in der Schule am Computer und konzipierte Unterrichtsblätter für meine Schüler*innen. Ich fuhr nicht gerne nach Hause in die leere Wohnung, in der niemand auf mich wartete. Das alles ist lange her. Seit acht Jahren bin ich in Pension und das Unterrichten habe ich längst hinter mich gelassen. Nun gibt es andere Tätigkeiten: Geschichten schreiben, Bücher lesen, Freundinnen treffen, mich mit meinen Katzen beschäftigen, spazieren gehen, Ausflüge machen, im Kaffeehaus sitzen, in der Mariahilfer Straße ein Bad in der Menge nehmen.
Heute fahre ich wieder nach Wien in meine leere Wohnung. Aber ich freue mich darauf. Ich bin ruhe-bedürftig geworden und das Alleinsein genieße ich immer mehr.
Die Räder rollen weiter und weiter. Die Bewegung fühlt sich gut an. Es ist ein Bewegt-werden. Bald bin ich am Ziel meiner Reise: Hauptbahnhof Wien. Von der ländlichen Stille des burgenländischen Dorfes hinein in das geschäftige Treiben der Großstadt. Als Jugendliche war das mein Traum: weg von der erdrückenden Enge des Dorfes, in dem jeder jeden kennt, hin in die befreiende Anonymität der Stadt.
Endstation. Auf dem Hauptbahnhof tauche ich ein in den unaufhaltsam dahinfließenden Menschenstrom und werde ein Teil von ihm, geborgen und getragen von einem größeren Ganzen. Ich löse mich von meinen inneren Bildern und mein Blick bleibt da und dort an gehenden, stehenden oder sitzenden Menschen hängen. Eine Gruppe junger Männer sitzt auf dem Boden. Geflohen vor dem Krieg? Und vor einem Schalter eine Menschenschlange, wartend auf ein Ticket für eine Reise, wohin auch immer.
Mit dem Autobus 13a fahre ich zur Neubaugasse. Dann gehe ich durch die Mariahilfer Straße bis zu meiner kleinen Stadtwohnung. Ich liebe es, durch diese berühmte Wiener Einkaufsstraße zu gehen, die voll Leben ist. Auch heute. Menschen sitzen vor den Lokalen im Freien und genießen den Abend. Ein Obdachloser richtet sich gerade in der Nische eines Geschäftseinganges sein Nachtlager her.
Dann bin ich an meinem Wohnhaus, gehe hinein, leere den Briefkasten. Dann hinauf in den ersten Stock in meine Wohnung. Ich stelle meinen lilafarbenen Koffer im Vorzimmer ab. Auspacken werde ich ihn später.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2022-11-02