von Travelbird
Schlaftrunken fahren wir im Tiefblau des Morgens los. Amit´s Familie verschwindet winkend im Rückspiegel, als wir unseren Trip durch Gujarat beginnen und die Stadtgrenze verlassen. Die Autobahn ist noch leer. Kaum das der Morgen anbricht, zerbirst die morgendliche Stille allerdings jäh im nie enden wollenden Hupkonzert. Bunte Troddeln und Quasten zieren die beidseitig überholenden TATA-Lastwagen gegen Unfälle. Der Glaube versetzt Berge – und Kuh Karawanen.
Amit legt auf der holprigen Autobahn eine beachtliche Vollbremsung hin. Staub wirbelt auf. Ringsum kommt der Verkehr zum Erliegen, bis die heilige Kuhherde gemächlich die Straße passiert und der Verkehr, als sei nichts geschehen, erneut anrollt. Ich nicke der bunten Gottheit auf unserem Armaturenbrett dankbar zu, die wie Amit lächelt, als sei es das normalste der Welt genau hier zu bremsen. »Go with the flow« atme ich tief durch. Ich vertraue Amit. Nicht nur als versiertem Fahrer.
Am nächsten Toll-Point klopft es zaghaft an die Scheibe. Ich schaue in das kunstvoll geschminkte Gesicht, das ein leuchtend orangeroter Schal einrahmt. Am Armgelenk klimpern unzählige Armreifen. Eine Augenweide! »Eine Spende für einen Gute-Reise-Segen?«, fragt sie im sanften Bariton. Auf den zweiten Blick erkenne ich einen jungen Transgender-Mann. Flink werden ein paar Scheine und Worte, die ich nicht verstehe, ausgetauscht. Bevor ich frage, erklärt mir Amit sie sei eine Hijra, was so viel wie »jemanden verstoßen« bedeutet. »Ein leider im gesellschaftlichen Leben zutreffender Ausdruck«, bedauert er.
Unter der muslimischen Moghulherrschaft einst an Hof und Harem verehrt, leben sie heute am Rand der Gesellschaft. Als Überbringer von Segen (und Flüchen) aller Art tanzen sie auf Hochzeiten, Einweihungen, Geburten und Festivals sprichwörtlich um ihr Überleben. Ich erinnere mich gern an die pulsierende tänzerische Darbietung über den Dächern Jodphurs zu Holi. Paradoxerweise werden sie gleichzeitig verehrt und gefürchtet. Vielleicht, da sie als machtvolle Seelen zwischen den Geschlechtern gelten. Passend für ein Land zwischen Aberglaube und Weisheit.
Auch ist Prostitution keine Seltenheit. Unternehmen verweigern strikt ihre Anstellung und noch in den 90ern durften sie weder wählen, heiraten oder Besitztum erlangen. WC- oder Krankenhausbesuche grenzen ans Unmögliche, da die Zugehörigkeit des Geschlechts strittig ist. Erst im Jahr 2018 erlässt das Parlament das Gesetz zum Schutz der Rechte von Transgender-Personen. Wann und ob ein gesellschaftliches Umdenken eintritt, bleibt für mich fraglich.
»Die Briten haben euch nicht nur den Linksverkehr vererbt«, sinniere ich, »sondern uns auch ihr konservatives Zwei-Geschlechter-Rollen Modell hinterlassen – im Land des einstigen Kamasutra«, beendet Amit meinen Satz. »Zur sexuellen Wiederbefreiung und Akzeptanz aller Geschlechterrollen ist es noch ein langer Weg«, schließt er nachdenklich und gibt Gas.
© Travelbird 2022-02-16