In der Geisterbahn

Jürgen Heimlich

von Jürgen Heimlich

Story

Eine besondere Attraktion des Wurschtelpraters ist die Geisterbahn. Ich konnte mir als Kind nicht so recht vorstellen, was mich dort erwartete. Es sollte gruselig sein. Und so begab es sich, dass ich im Alter von acht Jahren in die Geisterbahn einstieg, wobei ich nicht mehr weiß, wer mit mir gefahren ist. Aber an eines kann ich mich genau erinnern: Meine Begleitung schrie auf, als ein Skelett die Arme nach uns ausstreckte. Ich war fasziniert von diesem Wesen, das den Versuch unternahm, uns zu erschrecken. Auch ein Geist und eine Mumie begegneten uns auf dem Weg durch die Geisterbahn. Zwischendurch erblickten wir das Tageslicht und winkten den Familienmitgliedern zu, die auf unsere Rückkehr warteten. Die Fahrt ging in Windeseile vorbei. Ich hatte es also geschafft und die Geisterbahnfahrt unbeschadet überstanden!

Eines Nachts sah ich zwei Skelette an meinem Bettende sitzen. Für einen Moment schien mein Herz stillzustehen. Denn diese beiden Skelette waren offenbar der Geisterbahn entsprungen. Sie hatten entschieden, bei mir die Nacht zu verbringen. Ich lief aus meinem Zimmer und berichtete meinen Eltern, was ich gesehen hatte. „Du hattest einen Alptraum“, beruhigte mich meine Mutter. „Nein, nein, nein“, sagte ich aufgeregt. „Die Skelette sind sicher noch da. Ich habe nicht geträumt!“ Meine Eltern begleiteten mich in mein Zimmer. „So, und siehst du noch die Skelette?“ Ich war erstaunt, denn sie waren nicht mehr da! Einfach verschwunden! In dieser Nacht werde ich nicht gut geschlafen haben.

Und noch im selben Jahr beschloss ich, meine erste literarische Figur zu erfinden. Das Skelett Bingo! Dieses besondere Skelett hatte genug davon, in einer Geisterbahn zu arbeiten, und traf die Entscheidung, das Weite zu suchen. Es schlich sich eines Tages davon, und erlebte auf seinem Weg durch den menschenleeren Prater und über dessen Grenzen hinaus allerlei Abenteuer. Festgehalten in einem kleinen Heftchen mit vielen Seiten. Leider verschwanden die Aufzeichnungen eines Tages. Aber Bingo führt mittlerweile längst ein Eigenleben wie jede andere literarische Figur. Es ist DAS Skelett, das in der Geisterbahn im Prater sein tristes Dasein beenden und zu neuem Leben erwachen wollte.

An der Geisterbahn bin ich nach diesem ersten Erlebnis oft vorbeigegangen. Aber erst Jahre später bin ich wieder mit ihr gefahren. Irgendwie hatte ich Respekt vor dem, was mich erwarten würde. Die beiden mir nicht näher bekannten Skelette konnten es mir ja übel nehmen, dass ich sie so lange sich selbst überlassen habe. Ich streifte auch nur mit einem kurzen Blick die Knochenmänner. Seitdem bin ich nie wieder mit der Geisterbahn gefahren. Ich betrachte sie gerne von außen und stelle mir vor, welches Eigenleben sich in ihr abspielt. Das beflügelt meine Fantasie. Und ob ich Angst vor Skeletten habe? Ganz im Gegenteil. Ich liebe Skelette. Nun, ich weiß schon, dass das seltsam ist. Wann immer ich echte Skelette sehe, betrachte ich sie mit Hochachtung.

© Jürgen Heimlich 2021-02-01

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