von Annika Höller
Der Winter kommt in diesem Jahr spät. Am letzten Februar-Wochenende. Kurz vor Corona. Genau dann, als ich mich auf den Weg mache. Ich lenke mein Auto auf den rutschigen Straßen Richtung Freistadt, stelle es am Bahnhof ab und bugsiere den Trolley die Stufen hinauf zum Bahnsteig. Dort keine Menschenseele. Stattdessen empfängt mich die Einsamkeit. Diese Einsamkeit alter Bahnhöfe und Bahngleise. Diese Melancholie des Abschieds und Neubeginns, die Orte wie diesen umweht.
Der Zug setzt sich gemächlich in Bewegung und die zauberhafte Winterlandschaft beginnt, vor meinem Fenster vorbeizuziehen. Wir befinden uns im Nirgendwo. Im tschechischen Nichts. Hier könnte man sich verlieren. Tagelang. Ich möchte mich dieses Wochenende auch verlieren. Aber nicht zwischen Bäumen und Schnee. Sondern zwischen Häusern, dem Duft vergangener Zeiten, Touristentrauben und Unentdecktem. In Prag. Plötzlich knacken die Lautsprecher. Schienenersatzverkehr auf einem Teilstück der Strecke. Mitten in der tschechischen Pampa. Und der Zug ist leer. Niemand da, dem ich einfach so nachtrotten könnte, der mir den Weg weist. In meiner Panik rufe ich am Handy die Website des Bahnunternehmens auf. Tatsächlich: In einer halben Stunde muss ich umsteigen.
In einem Dorf macht der Zug schließlich Halt. Ich trete hinaus auf den Bahnsteig und erblicke ein paar andere Menschen, die sich hin zu einem Bus bewegen. Zum Glück steht da nur dieser eine Bus – ich habe also gar keine andere Wahl. Ich schließe mich ihnen an. Wir fahren eine halbe Stunde durchs Nirgendwo. Dann hält der Bus bei einem ähnlich verlassenen Bahnhof wie zuvor. Zwei Züge stehen dort auf den Gleisen. Auf dem einen steht Prag. Auf dem anderen nichts. Es kann nur der erste sein, sage ich mir. Und riskiere.
Zwei Tage später sitze ich im selben Zug retour. Mit einem Rucksack voller Abenteuer, Eindrücke, Begegnungen. Ich habe die Sehenswürdigkeiten abgeklappert, habe in einem alten Café Kaffee mit Baileys geschlürft und gelesen, so wie einst die großen Literaten, habe mich mit einem Gulasch gestärkt und bin stundenlang Teil des Treibens auf der Karlsbrücke gewesen. Plötzlich wird die Tür des Abteils aufgeschoben. Vier junge Menschen lassen sich neben mir nieder. Ein Pärchen. Die anderen zwei nur das dritte und vierte Rad am Wagen bzw. am Fahrrad. Sie wirken müde. Reden wenig. In einem vertrauten Dialekt. Dann lassen sie Erlebtes, genauso wie die Landschaft stumm an sich vorbeiziehen. Plötzlich schreckt das dritte Rad am Fahrrad hoch. Der Lautsprecher meldet sich mit einem mir schon geläufigen Knacken zu Wort. Schienenersatzverkehr. Panik in ihren Gesichtern. Was? Wo? Ihre verzweifelten Blicke amüsieren mich, erinnern sie mich doch an mich selbst, vor zwei Tagen. „Keine Sorge, ich weiß, wo wir umsteigen müssen. Ich bin mit derselben Zugverbindung hergefahren.“, sage ich. Die Gruppe atmet auf. „Ma super, da haben wir ja Glück, dass wir bei dir sitzen“, sagt das vierte Rad am Fahrrad. Ich lächle.
© Annika Höller 2021-01-22