In die Vergangenheit schauen

ratz

von ratz

Story
Starnberger See

Noch ist es Sommer. Unser Wohnwagen steht auf einem Campingplatz an der Südspitze des Starnberger Sees. Wenn ich an den Strand gehe, sehe ich in der Ferne am westlichen Ufer den Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Häuser und die zwei Türme der katholischen Kirche. Auf dem Landweg 16 Kilometer entfernt, die Luftlinie wird kürzer sein. Morgens tauchen die Türme erst gegen neun Uhr aus dem Nebel auf, der sich in den schon kühlen Nächten über den See legt. Mittags sind sie deutlicher zu sehen, am Abend werden sie angestrahlt und leuchten aus einer dunklen Umgebung. Immer sind sie sehr klein. Es passt, sie aus der Ferne zu sehen. Sie sind so weit weg wie das kleine Mädchen, das morgens drei Kilometer zur Schule lief, die direkt neben der Kirche lag — von der ersten Klasse Grundschule an, die damals noch Volksschule hieß. Die Länge des Weges war kein Problem, auch nicht das Gewicht der ledernen Schultasche. Die hatte die Größe einer Aktentasche. Sie sollte nicht nach ein paar Jahren ersetzt werden, sondern für die ganze Schulzeit reichen (tat sie auch). Das Problem waren die Gefahren, die unterwegs lauerten. Hunde, die plötzlich bellend hinter einem Zaun auftauchten und sie erschreckten. Diese Zäune merkte sie sich mit der Zeit, war gewappnet, hielt Abstand. Schlimmer war der Spitz, der zu einem Haus gehörte, an dem ihr Weg vorbei führte. Der Garten war nicht eingezäunt. Wenn der Spitz draußen war, kam er kläffend gelaufen. Gebissen hat er nie. Wahrscheinlich war er harmlos. Aber die Kleine hatte Angst vor Hunden. Schon wenn sie sich dem Haus näherte und noch nicht wusste, ob der Spitz draußen war oder nicht, klopfte ihr Herz. War er da, fixierte sie ihn mit ängstlichem Blick und verbot ihren Beinen zu rennen. Er sollte nicht merken, wie sehr sie sich fürchtete. Es gab nicht nur Hunde. Auch ein paar Jungen, die denselben Schulweg hatten wie sie und sich ihr in den Weg stellten. Ich erinnere mich nicht, womit sie drohten und was sie von ihr wollten. Vielleicht gar nichts weiter. Vielleicht nur genießen, dass sie dem Mädchen, das ein bisschen kleiner, ein bisschen schwächer war als sie selbst, Angst machen konnten. Es gab nicht nur Angst. Es gab auch Freuden. Eine Wiese, die im Frühling gelb war vor Schlüsselblumen. Himmelschlüssel nannten wir sie. Einmal hat sie einen dicken Strauß davon auf dem Heimweg gepflückt, so dick, dass sie ihn kaum halten konnte mit ihrer kleinen Hand. Auf einem Abschnitt des Weges konnte sie die Berge sehen, hinter dem See und den Hügeln des Voralpenlandes. So sehr hat sie das gemocht, dass eine Landschaft ohne Berge am Horizont lange keine richtige Landschaft für sie war. Es gab auch die Jugendjahre, in denen ich am Sonntagmorgen um sechs Uhr auf die Ilka-Höhe gelaufen bin, die sich über unserem Ort erhob. Da habe ich über den See und das weite Land geschaut und wieder die Berge am Horizont gesehen. Die kannte ich alle mit Namen. Angefangen von der Benediktenwand hatte ich fast die ganze Reihe daneben damals schon erstiegen. Wenn ich das alles sah, dachte ich, dass die Brust mir bersten müsste vor Glück. All das ist in dem Bild mit den winzigen Kirchtürmen geborgen. Ich sehe sie in der Ferne ganz deutlich. 


 


© ratz 2023-09-26

Genres
Reise
Stimmung
Emotional
Hashtags