In Mathe war ich immer stark

Marielle Kreienborg

von Marielle Kreienborg

Story

Die drei K, sagt die Lehrerin, seien immer noch präsent, lediglich gewandelt: Was früher Kind, Küche, Kirche, wäre heute Kind, Küche, Karriere. Minuten später: wir sprechen über Gleichberechtigung. Die Lehrerin fragt jede weibliche Anwesende, ob sie sich Jungs gegenüber benachteiligt fühlten. Die Mädchen verneinen der Reihe nach. „Ist nicht der Umstand“, frage ich sie, „dass allein wir befragt werden, Zeugnis genug? Nach wie vor“, sage ich, „ist es für Frauen weitaus schwieriger, in Führungspositionen zu gelangen und dort etwas auszurichten, ob Politik, Kultur, Forschung. Wie viele einflussreiche Frauen kennt ihr?“

Eines der Mädchen hält ein Referat über die Mathematikerin Emmy Noether. „Da die Habilitation von Frauen an preußischen Universitäten untersagt war“, erzählt uns die junge Französin, „und Emmy Noethers Schreiben mit Bitte um eine Ausnahmeregelung abgewiesen worden war“, wäre ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihre Vorlesungen unter dem Namen David Hilberts anzukündigen, als dessen Assistentin sie fungierte.

Ich bin fassungslos. Nicht bloß ob jener Offenbarung, hinsichtlich meiner Ignoranz. Ich kenne Emmy Noether nicht. Wieso, frage ich mich, kenne ich diese Frau nicht? Hätte sie meinen Weg kreuzen, hätte ich akribischer nach ihr fahnden müssen? Als ich aufs Gymnasium ging, in den Zweitausender Jahren, standen weder Feminismus noch Integration noch Nachhaltigkeit auf dem Lehrplan.

Im Deutschabitur blieb mir die Wahl zwischen Brecht und Kleist. Weder mir noch meinen Mitschüler*innen schien merkwürdig, dass uns in Effi Briest ein Mann erzählte, wie eine Frau fühlte. Niemand monierte, dass es in sieben Jahren Gymnasium nicht ein einziges von einer Frau geschriebenes Werk auf unsere Lektüreliste geschafft hatte.

Erst der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die sich ihm anschließende Weimarer Republik, fährt die Schülerin fort, hätte eine Verbesserung der rechtlichen Stellung der Frauen gebracht, sodass Emmy Noether im Jahre 1919 als erste Frau in Deutschland in Mathematik habilitieren konnte. Sie hätte Emmy Noether gewählt, schließt die Schülerin, weil sie für sie ein Vorbild sei: eine Frau, erfolgreich in einem Bereich, der als Männerdomäne gelte. „Es stimmt nicht, was die Männer zu Noethers Zeiten gedacht haben: „Sind wir doch der Meinung, daß ein weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöpferisch tätig sein kann.” Ich lehne mich zurück in meinem Stuhl, schaue die sechzehnjährige Camille an und schmunzele:

Herr Husserl, denke ich: Sie haben sich geirrt.

© Marielle Kreienborg 2021-06-14

Hashtags