von Franz Brunner
Gesetzt den Fall, Sie gehören der Generation 50+ an oder Sie sind an Motorsport interessiert, dann könnten Sie es wissen, was am 5. September 1970, exakt um 15 Uhr 25 passierte. Ich, ich weiĂ es ganz genau, ich spĂŒr‘ es sogar heute noch: Ich hatte den Tod vor Augen. Ja doch, mit dem Tod, da scherzt man nicht, zumindest nicht leichtfertig. Und man lĂŒgt auch nicht, wennâs um den Tod geht. Also ich trau mich nicht, und der nĂ€chste vorbeikommende Blitz soll mich auf der Stelle spalten, wenn die folgende Geschichte nicht stimmt. Bei meiner Ehr, so warâs.
Irgendwie schaffte ich es vom Baum runter. Es war eine WeiĂbuche, etwa 20 Meter entfernt von meinem Zuhause, einem wilden Konglomerat von kleinen Mietwohnungen umringt von einem beeindruckenden Mischwald. Die Baumkrone war nach wenigen Metern so dicht, dass ich als magerer 12-JĂ€hriger mit meinem ebenso mageren Freund nicht zu entdecken war. Gemeinsam mit Erich, der 4 Jahre Ă€lter als ich war, hockte ich da oben. Selbst die Rauchschwaden, die wir mit unseren Nil-Zigaretten produzierten, entzogen sich den Blicken allfĂ€lliger Beobachter. Nil, das war jene historische Marke, die es in blitzblauen Schachteln mit 10 StĂŒck dieser GlimmstĂ€ngel gab. Rauch jeglicher Art steigt meist auf, wir hatten die Physik eindeutig auf unserer Seite.
So gar nicht auf meiner Seite hatte ich die Götter, die fĂŒrs Wohlbefinden zustĂ€ndig sind. Erich hatte mich ĂŒberredet, meine erste Zigarette zu inhalieren und ich tat das mit vorgetĂ€uschter Inbrunst, ich wollte mich schlieĂlich nicht blamieren. Man(n) ist ja kein Weichei, sondern beinahe erwachsen. Und dann war mir schlecht, unglaublich schlecht.
Ich fand mich am RĂŒcken liegend in der Wiese neben dem Haus wieder, starrte flehend in den Himmel. Die Welt um mich drehte sich wie wild, wĂ€hrend Jochen Rindt in Monza seine Runden drehte. Unsere VĂ€ter und solidarisch die MĂŒtter scharten sich vor den FernsehgerĂ€ten, schwarz-weiĂ und laut, die Fenster waren am herrlich schönen Sonntagnachmittag weit geöffnet.
Der MotorenlĂ€rm der Formel-1-Boliden ĂŒbertönte alles, mit Leichtigkeit auch meine Magen- und DarmgerĂ€usche, die ich kurz vor meinem drohenden Tod und ohne jegliche Möglichkeit der Gegenwehr absonderte.
Plötzlich war es vorbei mit der Idylle, ein kollektiver Schrei, Aufruhr lag in der Luft. Hatten sie mich entdeckt, wollten sie mich womöglich retten? Es kam keiner, ich war trotz meines Leidens froh drĂŒber, denn Mama hĂ€tte meine Verfehlung garantiert erschnuppert. Es war still geworden, sehr still. Abgesehen von Klagelauten und einigen Wörtern mit Sch ⊠beginnend war nichts zu hören. Exakt um 15 Uhr 25 verunglĂŒckte Formel-1-Weltmeister Jochen Rindt tödlich und ich durfte weiterleben.
Es sollte einige Tage dauern, bis mir das klar wurde, doch bis heute bin ich dem Schicksal fĂŒr diese zweite Chance ĂŒberaus dankbar. Ich bin seit ĂŒber 40 Jahren rauchfrei und Jochen Rindt dreht seit 51 Jahren im Himmel seine Runden. Gib weiterhin ordentlich Gummi, Jochen.
© Franz Brunner 2021-09-05