von Marianne Frank
Ich bin Pendlerin. Oder war es zumindest, bis eine Pandemie über uns hereinbrach. Als Pendlerin sah ich tagtäglich viele Menschen auf dem Weg zur Arbeit, die ihren Morgen ebenso wie ich in vollen Zügen genossen. Zu Hunderten saßen und standen wir dicht gedrängt. Und dennoch war ich immer völlig für mich. Kaum jemand sprach mich je an im Zug. Fühlten Menschen sich beobachtet, wandten sie ihren Blick oft ab. Die meisten starrten ohnedies auf ihr Handy und waren ganz woanders.
Jeden Morgen stand ich zur selben Zeit am selben Bahnsteig und fuhr mit demselben Zug in die Stadt zur Arbeit. Wenn man jeden Tag diese morgendliche Routine lebt, dann sieht man auch jeden Morgen dieselben Menschen. Ich kenne sie nicht persönlich, hatte nie Kontakt, aber irgendwann merkte ich, dass sie immer dort waren und von da an gehörten sie zu meinem Alltag.
Jeden, wirklich jeden Morgen stand bei der immer gleichen Bank ein Mann mittleren Alters mit Hut und einer Aktentasche, die er während des Wartens abstellte. Er war eine unauffällige Erscheinung, doch wäre es mir sofort aufgefallen, wäre er einmal nicht da gewesen. An einem sonnigen Frühlingsmorgen nickten wir uns erstmals freundlich zu und taten es von da an täglich.
Mit uns gemeinsam stieg fast immer ein junges Paar um die dreißig in den Zug. Oft saßen sie mir gegenüber. Er packte stets seine Zeitung aus und reichte ihr den Kulturteil. Er war offenbar der Mann fürs Grobe und vertrug schon in aller Herrgottsfrüh und vielleicht sogar auf leeren Magen das Neueste aus der Innenpolitik. Sie lasen schweigend nebeneinander, ehe sie nach ein paar Stationen als Erste ausstieg.
Eine Haltestelle später stieg Tag für Tag ein junger Mann ein. Er zückte stets sofort sein Handy und telefonierte laut, sodass der halbe Waggon an dem Gespräch teilhaben konnte. Irgendetwas an ihm wirkte immer ein bisschen seltsam. Das Gespräch verlief immer gleich. Er sprach wohl mit einer Frau, erzählte, dass er soeben in den Zug gestiegen war und gleich bei ihr wäre. Zuhören war unvermeidlich und es hätte mich schon interessiert, mit wem er sprach und was die beiden jeden Tag gemeinsam vorhatten. Eines Tages stieg er mit einem zweiten Mann in den Zug. Er erzählte diesem, dass er kurz seine Freundin anrufen müsse, damit sie sich auf den Weg machen könne, da sie dann gemeinsam zur Arbeit fahren würden. Mit einem Schlag ergaben all die Telefonate einen Sinn für mich.
Mittlerweile sitze ich seit über einem Jahr im Homeoffice. Ich sehe meine anonymen Zugkontakte nicht mehr. Kürzlich begegnete mir die sonst Kulturteil lesende Frau bei einem meiner Afterwork Spaziergänge mit kugelrundem Babybauch. Auch sie erkannte mich offenbar wieder und lächelte mir kurz zu. Manchmal frage ich mich, ob der Mann mit Hut auch jetzt jeden Tag am Bahnsteig steht und die beiden Jungen nach wie vor gemeinsam in die Arbeit fahren. Ich hoffe, wir fahren bald wieder zusammen wortlos Zug. Oder wechseln nach so langer, seltsamer Zeit vielleicht sogar ein paar Worte.
© Marianne Frank 2021-04-05