In Wahrheit geht nichts verloren

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Ich musste etwas gegen dieses Gefühl der Leere tun, das sich in mir vor einiger Zeit breit gemacht hatte. Ich spürte ihm eine Zeitlang nach und entdeckte, dass die Leere einen Tarnanzug trug, unter dem sich andere Gefühle verbargen, die mir zuerst zaghaft, dann deutlicher offenbarten, was mir fehlte. Es meldete sich eine gewisse Sehnsucht nach Unterwegssein. Abenteuer. Aufbrechen ins Ungewisse. Hinaus aus der Großstadt.

Ich nähere mich dem Renaissance-Schloss. Der Kies knirscht unter meinen Füßen. Meine Augen gleiten über die großzügige Gartenanlage, die einst von barocken Zwergen aus Sandstein bevölkert war. Der Eingang von Schloss Greillenstein wird von zwei Löwen bewacht. Der linke reißt sein Maul auf, reckt sich himmelwärts und fletscht die Zähne furchterregend, der rechte sieht mich recht sanftmütig an.

Ich trete ein. Es ist noch eine gute halbe Stunde bis zur Führung.

Die Anlage mit dem 2 Meter dicken Gemäuer und dem Wehrturm diente über die Jahrhunderte dem Adelsgeschlecht der Grafen von Kuefstein als Stammsitz. Ich finde sofort einen Anknüpfungspunkt. Im 14. Bezirk gibt es eine Kuefsteingasse. Ihr Namensgeber ist einer der Grafen, der um 1700 Besitzer des Wiener Vorortes Breitensee war.

Ich werfe einen Blick ins Verlies und wundere mich, dass ich einmal „Verlies“, ein andermal „Verließ“ lese. Warum diese Unentschiedenheit? Ich halte innerlich einen Kurzvortrag vor einem imaginierten Publikum über den Wechsel von r und s in etymologisch verwandten Wörtern, den man Rhotazismus nennt. Mein Großvater hat noch „valéosn“ für „verlieren“ gesagt. Und das liegt ganz nahe am Mittelhochdeutschen. Die Stammformen lauteten: verliesen – verlôs – verlurn – verlorn.

Ein Gefühl der Dankbarkeit überschwemmt mich. Mich nicht für meinen Heimatdialekt zu schämen, ihn nicht als etwas Minderwertiges zu betrachten, sondern als Schlüssel, der die Tür zu tieferem Verständnis, wie Sprache gewachsen ist, aufschließt, das hat den Grundstein für meinen Forschergeist und schließlich meine Lehrtätigkeit an der Uni gelegt.

Ich verlasse das Verlies, besuche ich die Zwerge, denen ein eigener Raum gewidmet ist, und verliere mich in Erinnerungen.

Vorigen Herbst schlenderte ich durch den Zwergelgarten beim Schloss Mirabell. Dort hatte Fischer von Erlach seine Hände im Spiel, ebenso wie hier auf Schloss Greillenstein. Ich lese Wissenswertes über den Archetyp Zwerg und seine Doppelnatur, und plötzlich bin ich vier Jahre alt und bestaune die Wichtel mit roter Zipfelmütze und Bart, die im Steingarten meiner Großmutter lebten. Mir haben sie gefallen, die Zwerge meiner Oma, weil sie immer guter Laune waren.

Ich frage mich, wann wir beginnen, die Dinge zu bewerten und sie mit dem Etikette „richtig/falsch“ oder „gut/schlecht“ zu versehen. Kinder unterscheiden nicht zwischen Kunst und Kitsch. Ich möchte die Welt öfter mit Kinderaugen sehen. Und einfach nur staunen.

Ein Blick auf die Uhr sagt, die Führung beginnt.

© Sonja M. Winkler 2020-08-16

Hashtags