Die Frage nach meinem Reisepass überraschte mich nicht wirklich. Der Grund dafür jedoch umso mehr. Wir waren gerade in den Nachtzug von Delhi nach Varanasi gestiegen, hatten das Gepäck im Abteil verstaut, als uns ein freundlicher Schaffner nach unserer Passnummer fragte. Ich kramte in meinem blaugrauen Tramperrucksack und streckte ihm das rote Dokument entgegen. Argwöhnisch musterte er das Bild, welches nach einigen Jahren nicht mehr ganz die Ähnlichkeit mit dem verschwitzten, müden etwas von heute hatte. Die Hitze Indiens hatte durchaus Spuren hinterlassen. Ich strich meine Haare aus dem Gesicht, um ihm die Identifikation zu erleichtern. Er nickte wohlwollend, notierte die Nummer und wollte schon weiter gehen. Da platzte die Frage nach dem „Warum“ einfach aus mir raus. Reine Neugier. Reine Routine die Antwort: „If you are poisened, we want to know who you are.“Die Frage nach der Häufigkeit dieser Option verkniff ich mir mit Mühe. Allein die Tatsache, dass dafür extra Listen geführt wurden, war mir erschreckende Antwort genug.
Mein erster Impuls, diesen komplett überfüllten Zug sofort zu verlassen, wurde mit einem lauten „Tuuut….“ gestoppt. Langsam setzte sich die Lok in Bewegung und wir mit ihr. Die vorbeiziehende Landschaft wurde immer mehr in Dunkelheit getaucht, das Innere des Zugs mit schummriger Beleuchtung erhellt. Unsere Abteil-Kollegen erwiesen sich als junge Weltenbummler, die mit vielen Geschichten bis in die Nacht hinein unsere Aufmerksamkeit fesselten. Als auch sie müde wurden, legte sich eine gespenstische Stille über den Zug. Das leichte Knattern der Räder hatte durchaus eine beruhigende Wirkung. Unter anderen Umständen wäre ich wahrscheinlich sofort meiner immer größer werdenden Müdigkeit erlegen. Aber nach dem Erlebnis mit dem Schaffner war bei mir an Schlaf nicht zu denken. Viel mehr fürchtete ich ihn. Ich war bereit alles zu tun, damit meine Passnummer auf dieser Liste nicht gecheckt werden musste!
Also las ich, hörte Musik und versuchte all die aufblitzenden Gedanken zu verdrängen. Wieso kamen mir plötzlich Szenen aus „Mord im Orientexpress“ in den Sinn? Ließe sich dieses wackelige Holzfenster im Notfall leicht öffnen? Wie lange hält man es eigentlich ohne Toilette aus, ohne körperlichen Schaden zu nehmen? Ich klammerte mich an meinen Sitz, meine Lider wurden schwer und ich riss sie erschrocken auf. Die Zeit kroch im Schneckentempo dahin, der Zug ebenso. Als endlich die Sonne aufging und die ersten Sonnenstrahlen das Abteil freundlich erleuchteten, atmete ich laut und tief auf. Ich blickte nach draußen und sah Bäuerinnen in ihren wunderschönen bunten Saris am Feld, fröhliche Kinder die winkend ein Stück mit dem Zug mitliefen und Geistliche, die in ihren Posen beeindruckende Gelassenheit verströmten. Die Angst in meiner Brust löste sich und verwandelte sich in Vorfreude, dieses wunderschöne Land noch weiter kennenzulernen. In all seinen Facetten – bei Tag und Nacht.
© Michaela Veit-Wailzer 2021-02-26