Inkognito

Gabriela Rodler

von Gabriela Rodler

Story

„Hey, hey Wickie“, mein sechsjähriger Sohn Thomas summte das Lied aus der Fernsehserie und drückte seine Nase an das Schaufenster des Spielzeuggeschäfts. Wir zwei waren auf einem vorweihnachtlichen Stadtbummel, aßen gebratene Maroni und ließen uns von der weihnachtlichen Beleuchtung verzaubern. Thomas verzauberte mehr die Vielfalt an Spielsachen in der weihnachtlich dekorierten Auslage. Eine elektrische Eisenbahn dampfte durch verschneite Dörfer. Auf einer Autorennbahn zogen Autos ihre rasanten Kurven. In einer Ecke war ein Wikingerdorf aufgebaut. Verschiedene Weihnachtskrippen strahlten uns an.

„Mama, so eine Krippe wäre schön, und das Wikingerdorf und, und …“ Mein Sohn zählte seine Wünsche auf. Vor einigen Wochen, zu seinem Geburtstag, bekam Thomas Wickie, Ylvi und einige andere Figuren. Zu Weihnachten würde das Dorf unter dem Christbaum stehen. Zu Hause angekommen, erzählte Thomas meinen Eltern aufgeregt von dem Stadtbummel. „Opa, ich wünsch mir das Wikingerdorf, eine Weihnachtskrippe und die Autorennbahn.“

Einige Tage später holte mich mein Vater in den Keller. „Schau, ich bau für Thomas eine Krippe.“ Tatsächlich stand auf der Werkbank eine Krippe aus Holzlatten, verkleidet mit Rindenstückchen an den Wänden und Moos auf dem Dach. „In die Krippe bau ich noch eine kleine Lampe und eine Spieluhr ein. Ich habe mir schon Ton besorgt, aus dem forme ich die Figuren.“ Ich war erstaunt und auch etwas skeptisch, da mein Vater nicht zu den begabtesten Bastlern zählte.

Die Tage bis Weihnachten waren voller Vorfreude und Spannung, Thomas fragte jeden Tag: „Wie lange dauert es noch, bis das Christkind kommt?“ Mein Vater werkelte an den Krippenfiguren, formte und bemalte sie.

Einige Tage vor Weihnachten sagte ich zu Thomas: „Komm, wir räumen deine Spielkiste auf.“ Ich wollte die Wickie-Figuren griffbereit wissen, um während der Bescherung ein emsiges Suchen zu verhindern, wenn das Wikingerdorf unter dem Christbaum stand. Doch oh weh, die Ylvi war nicht zu finden. „Thomas, du Schlamperdatsch, jetzt hast du die Figuren erst ein paar Wochen und schon fehlt die Ylvi.“ Mein Sohn war zerknirscht und am nächsten Abend erzählte er mir: „Mama, ich habe das ganze Zimmer abgesucht, die Ylvi ist weg.“

Die weihnachtliche Spannung war im ganzen Haus zu spüren. Mein Vater war voller Vorfreude über die Krippe für Thomas, und dieser in Erwartung des Christkindes.

Dann endlich der Weihnachtsabend. Die Kerzen am Baum verbreiteten ihr warmes Licht, der Duft der Tanne und des Lebkuchens vermischten sich, und die Strohsterne drehten sich langsam. Die Pakete lagen unter dem Baum, die Krippe leuchtete und spielte leise „Stille Nacht“. Mein Vater beobachtete Thomas und als dieser zu Krippe lief, strahlte er.

Thomas bückte sich, nahm etwas aus der Krippe, drehte sich um und rief: „Mama, da ist meine Ylvi!“

Aus dem Ton konnte mein Vater kein Jesuskind formen, es wurde zu klobig. Er suchte in den Spielsachen von Thomas und fand Ylvi.

© Gabriela Rodler 2020-11-16

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